Wie schaffe ich es, dauerhaft mit meinem Sport Sendeplätze im Fernsehen zu erhalten und dabei ein massentaugliches Publikum zu erreichen? Über diese Frage zerbrechen sich wohl unzählige Entscheider in Sportverbänden auf dem gesamten Planeten den Kopf – um dann doch in schöner Regelmäßigkeit am Übertragungsmonster Fußball und zu niedrigen Einschaltquoten zu scheitern. Anschauungsunterricht, wie es dennoch funktionieren kann, erhalten die Verbände ab heute wieder knapp drei Wochen lang bei den „PDC World Championship of Darts 2016“ – der Darts-Weltmeisterschaft im altehrwürdigen „Ally Pally“ in London.
Von der Handball-WM im Januar dieses Jahres in Katar gab es keine Live-Bilder im Free-TV, die Basketball-EM vor zwei Jahren wurde überhaupt nicht im deutschen Fernsehen übertragen – 2015 änderte sich das wohl nur, weil die deutsche Gruppe in Berlin ausgespielt wurde und Superstar Dirk Nowitzki auflief. Unterdessen macht Sport1 ob der Zuschauerquoten der Handball-Bundesliga wahrlich keine Freudensprünge, die Eliteliga im Basketball wird gar nur für Telekom-Kunden zum Augenschmaus. Die Liste der Sportarten, die um Sendeplätze kämpfen, lässt sich problemlos verlängern. Von Tischtennis ganz zu schweigen.
Und dann ist da dieser Kneipensport Darts. Große Männer mit kleinen Pfeilen, oder besser gesagt: Dickbäuchige Männer aus der Arbeitergesellschaft, die in einem Konzentrationssport gegeneinander antreten. Mann gegen Mann, während im Hintergrund eine grölende Meute verkleidet auf Bierbänken steht und Fußballlieder anstimmt. Eine Fangemeinde, die die Akteure wie Popstars verehrt. Ist das die Zukunft des Sports im TV?
Der Spartensender Sport1 überträgt dieses Jahr 92(!) von insgesamt 98 Stunden live aus dem Ally Pally: von der ersten Runde bis zum Finale am 3. Januar. Dabei erwartet der Sender aus München Einschaltquoten von bis zu zwei Millionen Zuschauern in der Spitze – oder gar noch mehr.
Um diese Cinderella-Story zu verstehen, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen, zehn Jahre zurück. Im Jahr 2005 übertrug der Sportsender erstmals live von der Dart-WM. Von der ersten Stunde an begleitete Kommentator Elmar Paulke das Event. Jener Paulke, der bis dato eher als Fachmann für Tennis in Erscheinung getreten war. Viele Kollegen hätten ihn damals für diesen Schritt belächelt, sagte er kürzlich in einem Interview auf dem Youtube-Channel Frank Buschmanns. „Ist Darts überhaupt Sport? Damals wusste ich das selbst nicht so recht.“ Doch der Mut von Paulke und Sport1 wurde belohnt. Die Quoten stiegen kontinuierlich.
Es ist der außergewöhnliche Kontrast, zwischen diesen einfachen Kerlen, die man eigentlich nur aus der Stammkneipe von nebenan kennt, und dem frenetischen Publikum, das für eine außergewöhnliche Stimmung sorgt, die Darts so beliebt macht. Der wesentliche Punkt geht in diesem ganzen Spektakel fast unter: „Alle zwei Minuten, bei schnellen Werfen gar noch eher, gibt es eine Entscheidung. Das macht Bock und das wollen die Leute sehen“, weiß Paulke.
Alle zwei Minuten eine Entscheidung
Bedeutet im Gegenzug: Benötigen andere Sportarten zu lange, um zum absoluten Spannungspunkt zu gelangen? Fußball geht ja immerhin auch mindestens 90 Minuten.
Im traditionsbewussten Tennissport etwa werden von vielen Seiten immer wieder Reformen gefordert. Ein Tennis-Match bei Grand Slams oder im Davis Cup über fünf elend lange Sätze wolle niemand mehr im TV sehen, heißt es. Stattdessen wird munter darüber diskutiert, wie Aufschlagspiele verkürzt werden können: kein zweiter Aufschlag mehr, kein Einstand, keine Verlängerung im Entscheidungssatz, kürzere Pausen während der Ballwechsel. Einige dieser Änderungswünsche werden dieser Tage sogar bei der „International Premier Tennis League“, einer Showkampf-Liga, die zwecks besserer Tennisvermarktung durch Asien tourt, getestet. In den Matches, bei denen auch Weltklasseakteure wie Roger Federer, Andy Murray oder Rafael Nadal aufschlagen, gibt es sogar den sogenannten „Power Point“: Der darf einmal im Match angesagt werden, der kommende Ballwechsel zählt daraufhin doppelt. Alles Maßnahmen, um Tennis rasanter, interessanter, spannender und damit wieder massentauglicher zu gestalten. Eine Übertragung dieser Regeländerungen auf den ATP-Zirkus haben die Topspieler jedoch wiederholt abgelehnt. Deshalb werden in Zukunft wohl nur echte Sportfreaks Tennis über Internetstreams oder bei Grand Slams eben auf Eurosport konsumieren. Im deutschen Fernsehen jedenfalls läuft kein Tennis, das über die Heimturniere in Halle, Hamburg oder Stuttgart auch nur einen Ballwechsel hinausgeht. Die inoffizielle Weltmeisterschaft der besten acht Spieler des Jahres in London vor wenigen Wochen, lief an Sportdeutschland so komplett vorbei.
Bei der Begründung, warum Tennis im deutschen Fernsehen so gut wie nicht mehr stattfindet, fällt immer wieder ein Argument: Kein deutscher Topspieler, der die Massen stundenlang vor die Bildschirme zerrt, so wie das einst Boris Becker oder Steffi Graf geschafft haben.
Wo wir wieder beim Darts wären: Hier gibt es nämlich ebenfalls keinen deutschen Superstar – und dennoch ist die Vorfreude der Sportfans hierzulande riesig. Denn obwohl einige Majorturniere und auch die Premier League im Darts regelmäßig auf Sport 1 hoch- und runterlaufen, ist es vor allem das „Partyturnier“ in London, das die Zuschauer begeistert. Nur zur WM kommt es nämlich vor, dass ein Ex-Fußball-Nationalspieler wie Steffen Freund, mittlerweile Co-Trainer bei den Tottenham Hotspurs, im Teletubby-Kostüm feiernd auf der Biertisch-Garnitur von den Kameras eingefangen wird und die sozialen Netzwerke daraufhin explodieren.
„Es gab niemals einen Aufruf, dass sich die Leute verkleiden sollen oder ähnliches“, sagt Paulke dazu. Es habe sich einfach in diese Richtung entwickelt. Und so werden auch bei der 23. Auflage der WM ganze Besuchergruppen in einheitlichen Kostümen erscheinen, Bier trinken und feiern, während auf der Bühne Profis von 501 herunterwerfen und mit einem ruhigen Händchen abschließend versuchen, diese verdammt kleinen Doppelfelder zu treffen.
Längst keine biertrinkenden und taumelmden Werfer mehr: Vollprofis werfen um Millionenpreisgeld
Vollprofis sind die Akteure auch deshalb, weil sich die Preisgelder kontinuierlich gesteigert haben. Dieses Jahr sind die Weltmeisterschaften mit 1,5 Millionen Pfund dotiert (mehr als zwei Millionen Euro), der Gewinner erhält 300 000 Pfund. Diese Dimensionen sind möglich, weil sich der 1992 von Topspielern gegründete Verband „Professional Darts Corporation“ (PDC) etabliert hat und sich exzellent vermarktet. Mit der Einführung des Verbandes ist auch das Bild des biertrinkenden und von der Bühne taumelnden Werfers nahezu verschwunden. Das hatte potenzielle Sponsoren Anfang der 90er Jahre noch abgeschreckt. Auf der Bühne herrscht seitdem Alkohol und Rauchverbot, zudem gibt es einen Dresscode, der eine Seidenhose vorschreibt. Was die Spieler nicht davon abhält, äußerst kreative und individuelle Polohemden zu tragen. Und auch rund um das eigentliche Spiel Darts herrscht eine einzigartige Eventstimmung. Einlaufmusik wie beim Boxen, garniert mit Einlaufmädchen, die wohl nur wenige männliche Zuschauer von der Bettkante stoßen würden. Weitere Zutaten für das Erfolgsrezept sind ein kultiger Punkteansager, samt rauchiger Whiskeystimme und Hunderte von „180-Plakaten“ im Publikum. Die werden jedesmal eifrig geschwenkt, wenn die Profis die Höchstzahl erwerfen. Dieser ganze Hype, der auch während der Matches nicht nachlässt, macht es für die Werfer umso schwieriger, eine exzellente Leistung abzurufen. Genau das jedoch zeichnet die besten Dartspieler aus: sich bei all dem Lärm und im Scheinwerferlicht über einen längeren Zeitraum fokussieren zu können.
Dieses „in der Zone bleiben“ fordert Elmar Paulke auch vom zurzeit besten deutschen Spieler Max Hopp. Dass er das könne, habe der Weltranglisten-45. bereits bewiesen. Bei der vergangenen WM avancierte er zum ersten Deutschen Dartspieler, der eine Runde bei einer Weltmeisterschaft überstehen konnte. Experten trauen dem 19-Jährigen zu, dass er sich zu einem absoluten Topspieler entwickelt und für den medialen Stellenwert der Sportart Darts eine Position erreichen kann, wie sie einst Boris Becker im Tennis innehatte. Dafür trainiert er täglich fünf Stunden, immer auf der Suche nach dem perfekten Wurf.
Gefunden haben diesen bereits die Topspieler der Szene. Als Favorit auf den Weltmeistertitel gilt dieses Jahr der Holländer Michael van Gerven, der zuletzt drei Major-Titel in Folge gewann. Standesgemäß macht sich natürlich auch Titelverteidiger Gary Anderson Hoffnung. In der Szene gilt er aber als – vorsichtig formuliert – überspielt. Um seinen WM-Titel zu vergolden, spielte der Schotte zu Beginn dieses Jahres zahlreiche sogenannte „Exhibitionmatches“, für die er kolportiert jeweils zwischen 7000 und 12 000 Euro einheimste.
Bei der Auflistung der Titelanwärter darf natürlich ein Name nicht fehlen: Phil „The Power“ Taylor. Auch wenn der Brite 2015 noch kein großes Turnier gewinnen konnte, sollte man die Erfahrung des 16-fachen Weltmeisters auf der Bühne des Ally Pally nicht unterschätzen.
Die kommenden drei Wochen werden Antworten liefern, garantiert: Doch nicht nur der sportliche Ausgang der Weltmeisterschaft wird spannend. Die Entwicklung der TV-Quoten macht sport24-fieber mindestens genauso neugierig. Und so werden bis zum dritten Januar nicht nur wir und Millionen von Sportfans, sondern auch zahlreiche Sportverbände und TV-Anstalten nach London blicken und sich danach die Frage stellen müssen: Ist das die Zukunft der Sport-Vermarktung im Fernsehen?