Fehlerfreies, schnelles Passen, unvorhersehbares Hinterlaufen am gegnerischen Kreis und eine hohe Flexibilität bei den Werfern. Das zeichnet die junge Deutsche Handballnationalmannschaft vor der Europameisterschaft (15. Bis 31. Januar in Polen) aus. An guten Tagen wohlgemerkt. Der vergangene Samstag war so ein Tag. In der mit 4300 frenetisch anfeuernden Zuschauern ausverkauften Kasseler Messehalle, in der sonst der nordhessische Bundesligist MT Melsungen seine Heimspiele austrägt, wurde die zur erweiterten europäischen Spitze zählenden Isländer über weite Strecken der Partie dominiert – und das mit den oben genannten Qualitäten. Erst als am Ende etwas durchgewechselt und getestet wurde, kamen die Nordeuropäer nochmals heran. Am Ende gewann Deutschland mit einem Tor Vorsprung. Der Isländische Trainer des Deutschen Handballbunds (DHB) Dagur Sigurdsson sah sein Team auf dem richtigen Weg. „Vor allem in der Defensive waren wir stark verbessert, hatten weniger Lücken als im vorherigen Test gegen Afrikameister Tunesien“, sagte der 42-Jähre auf der anschließenden Pressekonferenz. Das Motto lautete: Noch an ein paar Kleinigkeiten arbeiten und dann fahren wir mit breiter Brust nach Polen. Und auch wir vom sport24-fieber Team waren uns sicher: Da geht was bei der EM!

Nur 24 Stunden später war dieses gute Bauchgefühl  verflogen. Beim erneuten Test gegen Island, diesmal in Hannover, war von den Offensivqualitäten des Vortags nichts mehr zu sehen und die Defensive war löchrig – entschuldigt das schlechte Wortspiel – wie ein Schweizer Käse. Das verletzungsbedingte Fehlen von Kapitän Uwe Gensheimer sowie der erfahrenen Nationalspieler Patrick Groetzki, Patrick Wiencek und Michael Allendorf war plötzlich wieder spürbar. Hochveranlagten, aber unerfahrenen Spielern wie dem Kieler Christian Dissinger (7 Länderspiele) war anzumerken, dass sie sich nach einer Leitfigur sehnen, wenn es mal nicht so läuft. Alleine Groetzki, Wiencek und Allendorf kommen zusammengerechnet auf annähernd 300 Spiele für die DHB-Auswahl. Dissinger und Co. Müssen nun alleine Verantwortung übernehmen.
Dass sie im taktisch ausgeklügelten Konzept von Sigurdsson  groß aufspielen und auch über sich hinauswachsen können, haben sie bereits das ein ums andere Mal gezeigt. Doch wenn die Auswahl bei der EM eine echte Chance haben möchte und auf das direkte Olympiaticket schielt (das gibt es nur im Finale) – und diesen Anspruch muss eine Deutsche Auswahl aufgrund der glorreichen Vergangenheit immer haben – dann muss diese neue Generation quasi in jedem Spiel über sich hinauswachsen. Und das trauen ihnen die wenigsten Experten zu.

handball PK
Schweres Erbe der Weltmeister-Generation

DHB-Präsident Karl-Friedrich Schwark hat unlängst angekündigt, „in den 2020er Jahren wieder eine dominierende Handballnation zu sein“. In diesen Tagen ist man das noch nicht. Dem Verband ist ein reibungsloser Übergang von der 2007er Weltmeistergeneration um  die Fritzs, die Baurs und die Kehrmanns nicht gelungen. Übrig geblieben ist nur noch der erfahrene Torwart Carsten Lichtlein, der es aber alleine aufgrund seiner Position schon schwerhaben dürfte, die Jungen zu führen. Nach dem großen Verletzungspech wiegen die Ausfälle nun umso schwerer.

Dennoch: Für die letzte Europameisterschaft hatte sich der DHB nicht mal qualifiziert, zur WM durften die Handballer nur dank einer umstrittenen Wildcard. Anfang 2016 sieht einiges schon viel besser aus. Sigurdsson hat der jungen Mannschaft eine Siegermentalität eingeimpft. „Es gibt nicht viele Mannschaften in Europa, die spannender sind als unsere“, sagte Sigurdsson dem WDR. Das mag man als Motivationsgerede abtun, doch bislang drang der Isländer stets zu seinem Team durch. „Dagur vertraut uns, und deswegen glauben wir an uns“, sagte etwa Rückraumspieler Steffen Fäth. Bereits während der EM-Qualifikation übertrug Sigurdsson seine stoische Ruhe auf die Mannschaft. Jene Gelassenheit kann dem Team auch in Polen dringend benötigte Souveränität verleihen. Und dann ist da noch der positive Trend unter Sigurdsson. Der Isländer hat den DHB wieder in die Nähe der Weltspitze gehievt. Von den 28 Spielen seit seiner Berufung zum Bundestrainer im August 2014 gewann Deutschland 21, nur fünf Partien gingen verloren. Sigurdsson gilt als kluger Taktiker, der in der Lage ist, auf Probleme reagieren zu können.

Und die wird es bereits in der Vorrunde zu lösen geben, wenn sein Team auf den Gruppenfavoriten und Ex-Weltmeister Spanien, auf Schweden und Slowenien trifft. Spanien stellt zum Auftakt am Samstag ( 18.30 Uhr/ ZDF) eine sehr große Hürde dar. Am Ende soll es für die Iberer der Titel sein, doch schon zum Auftakt der Europameisterschaft wollen Spaniens Handballer mehr als einen normalen Sieg. Geht es nach der Prognose von Rückraumspieler Joan Cañellas, wird eine Lehrstunde stattfinden. „Er hat gesagt, sie gewinnen mit zehn Toren Unterschied“, berichtete Dissinger gegenüber der Deutschen Presse Agentur (DPA) über Vor-EM-Gespräche mit seinem Teamkollegen beim THW Kiel. „Er ist da sehr selbstbewusst mit der Nationalmannschaft“, meinte der deutsche Kapitän Steffen Weinhold, der ebenfalls mit Cañellas in Kiel spielt. Keine Frage: Die Spanier sehen sich drei Jahren nach dem Gewinn des Titels bei ihrer Heim-WM als einen Mitanwärter auf EM-Gold. „Die Vorrunde mit Deutschland, Schweden und Slowenien ist hart. Aber wir fahren nach Polen, um den Titel zu gewinnen. Wir waren noch nie Europameister, das wollen wir ändern“, erklärte Abwehrspezialist Gedeón Guardiola forsch. Doch der 31-Jährige vom Bundesliga-Spitzenreiter Rhein-Neckar Löwen weiß auch um die Gefahren des Turniers. „Eine EM ist sehr anstrengend und schwieriger zu gewinnen als eine WM. Es gibt kein einziges leichtes Spiel“, meinte Guardiola.
Und in sein Urteil bezieht er ausdrücklich die deutsche Mannschaft mit ein. Denn er hat den 29. April 2015 nicht vergessen, als die Iberer in der EM-Qualifikation in Mannheim mit 28:29 den Kürzeren zogen. „In Mannheim wurden wir überrascht, vor allem von Niclas Pieczkowski. Den hatten wir überhaupt nicht auf dem Zettel“, erinnerte sich der Abwehrchef der Löwen. Bester Torschütze damals: Pieczkowski mit fünf Treffern. So sind die Spanier diesmal auf der Hut. Guardiola: „Wir sind gewarnt und wissen, dass die Deutschen eine starke und junge Mannschaft haben. Sie agieren kraftvoll und mutig.“

Frankreich erneut Topfavorit

Attribute, die das DHB-Team vor allem in den weiteren Begegnungen mit Schweden und Slowenien unter Beweis stellen müssen. Die ersten drei Teams, der vier Vorrundengruppen schaffen den Sprung in die Zwischenrunde. Die Ergebnisse werden mitgenommen. Dort werden zwei Gruppen à sechs Mannschaften gebildet, wobei die Vorrundengruppen vermischt werden: Die drei besten aus Gruppe A müssen sich gegen die drei besten der Gruppe B beweisen; genauso läuft es bei den Gruppen C und D. Es folgen drei weitere Matches. Die beiden jeweiligen Gruppenbesten qualifizieren sich für das Halbfinale, die beiden Drittplatzierten spielen um Platz 5, die Viertplatzierten um Platz 7. Wer sich im Finale am 31. Januar durchsetzt, hat doppelten Grund zur Freude: Der Titel berechtigt automatisch zur Teilnahme an den Olympischen Spielen 2016 in Rio. Gewinnt Frankreich als Weltmeister auch das EM-Finale, ist der Finalgegner automatisch in Brasilien dabei. Zudem werden noch zwei Plätze für Olympia-Ausscheidungsturniere vergeben. Diese finden vom 7. bis zum 10. April statt. Die deutsche Mannschaft hat die Teilnahme an einem der Quali-Turniere wegen des siebten Platzes bei der vergangenen WM bereits sicher. Umgehen könnte sie dieses Turnier also nur mit einem Finaleinzug. Die Nation, die es zu schlagen gilt, ist einmal mehr Frankreich. Das Team um Superstar Nikola Karabatic gewann seit 2012 alles, was es zu gewinnen, ist amtierender Welt- und Europameister sowie Olympiasieger. Hoch gehandelt wird auch Gastgeber Polen, das bei der WM 2015 in Katar den dritten Platz erreichte. Zuletzt musste das Team des deutschen Trainers Michael Biegler allerdings eine herbe 12:26-Niederlage gegen Spanien hinnehmen. Zu achten ist auch auf Dänemark, das seit der deutlichen Finalpleite bei der Heim-EM vor zwei Jahren noch eine Rechnung mit den Franzosen offen hat. Auch Kroatien und Spanien zählen zu den Topteams. Ein Finaleinzug wird somit wohl selbst mit stetigen Leistungen wie der in Kassel gegen Island ein mehr als schwieriges Unterfangen für die Deutsche Handball-Nationalmannschaft.