Wenn wir an das Jahr 2006 zurückdenken, kommt den meisten sofort ein, nein das Event schlechthin in den Kopf: Die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland. Ein ganzes Land präsentierte sich vier Wochen in Feierlaune, die Stimmung von Berchtesgaden bis Flensburg war mehr als ausgelassen. Fanmeilen erwachten zum Leben und Public Viewing wurde die neue, aufregende Art, Fußballspiele zusammen mit tausenden Menschen gemeinsam zu erleben. Und weil selbst Petrus in Personalunion mit Kaiser Franz Beckenbauer seinen Teil zum perfekten Sommer beitrug – es herrschte vom Eröffnungsspiel in München bis zum Finale im Berliner Olympiastadion Kaiserwetter – blieb die Zeit der Heim-WM bis vergangene Woche als „Sommermärchen“ in Erinnerung.
Doch genau eben diese Lichtgestalt des Deutschen Fußballs, Franz Beckenbauer, damals Chef des deutschen Bewerbungskomitees ist jetzt zusammen mit Wolfgang Niersbach und anderen DFB-Größen in einen handfesten Skandal verwickelt. Sie sollen gewusst haben, dass die WM nur mithilfe von Bestechungsgeldern in Millionenhöhe in der Bundesrepublik stattfinden konnte. Erst Weltmeister als Spieler, dann Weltmeister als Teamchef und schließlich die treibende Kraft, die das Sommermärchen im eigenen Land überhaupt erst ermöglicht hatte. Alles was der Kaiser anpackte, schien zu gelingen. Doch selbst er und seine Helfer sollen nicht gänzlich ohne Methoden ausgekommen sein, die uns sonst bisher nur von anderen Funktionären des Weltverbandes FIFA bekannt sind. 10.3 Millionen Schweizer Franken soll der damalige Adidas Chef Dreyfus dem Bewerbungskomitee des DFB geliehen haben; die seien schließlich zur Bestechung von vier asiatischen Mitgliedern des FIFA-Exekutivkomitees genutzt worden. Das berichtet zumindest DER SPIEGEL in seiner neuesten Ausgabe.
Neuanfang anstatt Nachfolger aus den eigenen Reihen
Fußballfans hierzulande waren sich einig: Die WM-Vergabe nach Katar 2022? Natürlich nicht sauber! Die WM-Vergabe nach Russland? Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht sauber! Aber bei der Vergabe der WM 2006? Alleine das enge Abstimmungsergebnis des FIFA-Exekutivkommitees von 12:11 Stimmen für Deutschland samt der Enthaltung des Neuseeländers Dempsey gaben bereits ohne die neuesten mutmaßlichen Enthüllungen Anlass zum Zweifeln. Dennoch hatte die große Mehrheit der Deutschen Fans und Medien bislang nur wenig Gedanken daran verschwendet, dass mit der WM-Vergabe etwas nicht in Ordnung gewesen sein könnte und, dass es aus Deutschland weitaus größere Entscheidungshilfen für die FIFA-Funktionäre gegeben haben könnte als nur den Präsentkorb mit Schwarzwälder Schinken und einer Kuckucksuhr von Martin Sonneborn und dem Satiremagazin Titanic
Die FIFA ist korrupt, das ist den Fans bewusst. Für den prominentesten Funktionär Joseph Blatter und UEFA-Boss Michel Platini scheint die Luft allmählich dünn zu werden, nachdem auch gegen sie handfeste Beweise vorliegen. Dies wurde auch Zeit. Irgendwann muss in dem Laden mal aufgeräumt werden. Mittlerweile wäre es fast schon einleuchtender – wie beim Projekt des Berliner Flughafens – alle Strukturen einzureißen und neu aufzubauen, anstatt Mittel oder Funktionäre einzusetzen, die bereits Teil der alten FIFA waren und sind. Denn ob ein Prinz Ali bin al Hussein, der bereits vier Jahre Vizepräsident des Exekutivkommitees war und als aussichtsreicher Nachfolger auf das Präsidentschaftsamt Blatters gilt, den Weltverband aus dem Korruptionssumpf befreien kann, ist mehr als fraglich. Der Fan fragt sich sowieso: Wer bei der FIFA ist noch glaubwürdig, wenn selbst die Deutschen Vertreter es nicht mehr Sein sollten?
Die Zeit der deutschen Saubermänner ist nun endgültig vorbei
Spätestens seit dem VW-Skandal kann von deutschen Saubermännern im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr die Rede sein. Und so könnte es nach der Schelte für die deutsche Autoindustrie wohl auch für den Deutschen Fußball einen enormen Reputationsverlust bedeuten, wenn sich die Spiegel-Vorwürfe bewahrheiten. Nicht nur für die Deutschen wäre das ein Schlag ins Gesicht, sondern ebenfalls für den Fußball allgemein, für alle Sportbegeisterten. Dass Blatter und weitere FIFA Funktionäre korrupt sind, ist für alle, die den Fußball lieben noch verkraftbar, weil seit Jahren ein offenes Geheimnis. Gekaufte Stimmen bei WM-Vergaben sind für die Fans seit den Diskussionen um Katar auch nichts Neues mehr. Die Angst bei den Sportbegeisterten ist nun berechtigter Weise: Was wird als nächstes aufgedeckt und will man das als Fan überhaupt wissen? Schonungslose Aufklärung fordern oder doch naiv das Spektakel Fußball genießen?
Die Enthüllungen auf Funktionärsebene treffen den Fan zwar; aber noch nicht ins Mark. Denn der Spielbetrieb ist nicht direkt betroffen. Die, die Weltmeister geworden sind, haben es auch verdient. Die, die es in Deutschland geworden sind, wären es 2006 wahrscheinlich auch in Südafrika geworden. Doch bleibt der aktive Spielbetrieb auch weiterhin von diesen Hiobsbotschaften ausgeschlossen? Hoffentlich. Dennoch geben die Rahmenbedingungen Grund zur Beunruhigung.
Liebe Fans, bleibt naiv!
Die Summen, die im Fußballgeschäft fließen sind in unvorstellbaren Dimensionen angekommen. Vor allem in den letzten Jahren haben sich die Gehälter und Ablösesummen enorm gesteigert und ein Ende ist vorerst nicht absehbar. Man muss nur an den neuesten TV-Vertrag der Premier League denken: Der hat zur Folge, dass für Fußballprofis oft noch deutlich mehr Geld im Spiel ist als für einen hochrangigen FIFA-Funktionär. Wenn man bedenkt, was die hohen Summen in Zürich angerichtet haben, der braucht eigentlich nur eins und eins zusammenzählen, um auf den aktiven Sport zu schließen. Wenn ein Fan denkt, dass im Spitzenbereich, in dem Millionen oder – im Falle des TV-Vertrages – gar Milliardenbeträge fließen, alles in einem völlig sauberen und fairen Rahmen abläuft, hat er dann Recht oder ist er schlichtweg naiv?
Aber genau diese mögliche Naivität müssen Fußballfans in Deutschland behalten, damit sie weiterhin so viel Spaß am Fußball haben können. Denn wenn man einmal das rationale Denken beginnt, dann bekommt man ganz schnell Zweifel, die man als leidenschaftlicher Fan am liebsten ganz schnell wieder vergessen möchte:
Manipulationsskandal in Italien und Drogenfunde bei Sportlern der amerikanischen Profiligen
Für das sportliche Image eines Landes gibt es nichts Wichtigeres als bei einer Fußball-EM oder WM, bei der Milliarden Menschen aus aller Welt vor dem Fernseher sitzen, gut abzuschneiden. Hierbei gibt es unzählige Interessensgruppen, die bedient werden wollen und die eigenen Interessen nachgehen. Sponsoren und Funktionäre wollen den ganz großen Coup. Liegt es da nicht nahe, dass der ein oder andere direkt Beteiligte, wie Spieler oder Schiedsrichter, kontaktiert wird, um Einfluss auf Ergebnisse zu nehmen? Bei einem internationalem Großereignis konnten Manipulationen noch nicht nachgewiesen werden, sehr wohl aber auf nationaler Ebene: Das bekannteste Beispiel ist hier wohl der Manipulationsskandal in Italien 2005/06. Hier wurden Manager diverser Top-Clubs überführt, systematische Schiedsrichter-Absprachen initiiert und somit eine ganze Saison gekauft zu haben. Der AC Mailand, der AC Florenz und der AS Rom erlitten empfindliche Strafen in Form von Punktabzügen, Juventus Turin wurde sogar mit dem Zwangsabstieg belegt. Bei anderen Sportarten gab es bereits Ungereimtheiten bei einer WM. Nach diversen fragwürdigen Schiedsrichterleistungen bei der Handball-WM Anfang dieses Jahres in Qatar, alle zugunsten des Gastgebers, gab es bereits erste Manipulationsvorwürfe. Hatten ortsansässigen Scheichs ein wenig nachgeholfen, um ihrer zusammengekauften katarischen Nationalmannschaft den Weg ins Finale zu ebnen? Man darf gespannt sein, was für Erfahrungen wir in sieben Jahren machen, wenn an gleicher Stelle die Fußball-WM stattfindet. Klar, es gibt keine Beweise dafür, dass bei einem großen Fußballturnier etwas verschoben wurde. Trotzdem müssen wir bei all den Wett- und Manipulationsskandalen in den Ligen und europäischen Vereinswettbewerben nicht so tun als wäre dies niemals möglich!
Auch über ein weiteres Thema wird im Fußball der Deckmantel des Schweigens gehüllt: Doping. In fast jeder Sportart, von Leichtathletik über Schwimmen bis Wintersport gibt es einige bekannte Dopingfälle und noch viel mehr Diskussionen. Doch der Fußball ist sauber? Die Sportart, bei der als Profi das ganz große Geld winkt? Die Sportart, bei der Aktive und Mannschaften einem gigantischem Druck ausgesetzt sind?Ein schwacher Tag und schon können Millionen Euro verloren sein. Kein Spieler bedient sich derartigen Mitteln, um dem Umfeld gerecht zu werden? Kein Team dopt systematisch, um schneller zu regenerieren und zu agieren? In Amerika ist gerade eine Diskussion darüber entfacht, ob in Teamsportarten flächendeckend gedopt wird. In der NBA und NHL werden bei immer mehr Dopingtests Spuren von Drogen wie Marihuana oder Kokain gefunden, die auch auf der Dopingliste stehen. Der Basketball oder das Eishockey haben in den USA und in Kanada bekanntermaßen einen hohen Stellenwert: Jede Woche spielen die Stars in ausverkauften Stadien, jedes Mal schauen Millionen Menschen zu, bei jedem Match geht es um eine Menge Geld. Die Bedingungen und Gegebenheiten sind also denen im europäischen Fußball sehr ähnlich…
Doch halt: Kehren wir wieder ganz schnell zur Naivität zurück und legen die düsteren Gedanken beiseite. Denn Fakt ist: Von großen Doping- und Manipulationsskandalen ist der internationale Fußball, zumindest bei einer EM oder WM, bisher verschont geblieben. Das ist der Stand der Dinge, und Fans wollen auch glauben und hoffen, dass es dabei bleibt. Auch von korrupten FIFA-Funktionären und gekauften WM-Turnieren, selbst wenn es unser Land betrifft, lassen wir Fußballfans uns nicht die Stimmung vermiesen. Denn wir wollen den Fußball weiterhin so genießen, wie wir das in der Vergangenheit getan haben. Wir wollen uns auf die Bundesligawochenenden und auf die Public Viewings an warmen Sommerabenden freuen. Wir wollen mitfiebern, wie beim Sommermärchen 2006. Auch wenn wohl mehr Märchen drinsteckte, als es uns lieb sein kann.