Am Ende wurde er vom alten und neuen Weltmeister Mo Farah gar überrundet. Im Ziel blieb Rang 17 über 5000 Meter bei den diesjährigen Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Peking. Dass Langstreckenläufer Arne Gabius mit 28:24,47 Minuten dabei zweitbester „Europäer“ wurde, blieb für die Zuschauer daheim an den TV-Geräten lediglich eine Randnotiz. Und auch Gabius selbst, immerhin Vizeeuropameister von Helsinki 2012, schien das blanke Resultat nicht wirklich zu interessieren. Denn der 34-Jährige definierte sich im Sommer schon lange nicht mehr als Bahnläufer. In seinem Kopf dreht sich seit zwei Jahren alles um Marathon und den deutschen Uraltrekord von Jörg Peters aus dem Jahr 1988. Die Fabelzeit von 2:08:47 Stunden wolle er am 25. Oktober 2015 – also vergangenen Sonntag – beim Frankfurt-Marathon knacken, hatte er Anfang des Jahres ankündigt. Peking dagegen sollte „ein letztes großes Konzert auf der Bahn werden“. Nach dem WM-Rennen bilanzierte der sechsfache Deutsche Meister schließlich: „Ich war der einzige gebürtige Europäer im Finale. Hier war die versammelte Weltelite, ich wollte es unbedingt zu Ende bringen.“

Doch die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die sich der erfolgreichste deutsche Läufer seit Dieter Baumann über Jahre hinweg eigentlich auf der Bahn hart erarbeitet hatte, gibt es erst seit seinem Wechsel auf „die Straße“. 2014 lief der gebürtige Hamburger in 2:09:32 Stunden das schnellste Marathon-Debüt eines Deutschen überhaupt – und damit die viertschnellste Zeit, die je ein Deutscher erzielt hatte. Seitdem gilt Gabius als die Marathonhoffnung einer ganzen Nation.

Um den Ansprüchen gerecht zu werden und sein Ziel zu erreichen, lief der gebürtige Hamburger dieses Jahr bis zu 260 Kilometer pro Woche, hielt sich dazu an einen strikten Ernährungsplan. Der Vegetarier setzt auf eine drastische Reduktion von Kohlenhydraten, isst so gut wie nie Nudeln und Weizenprodukte. „Ich drille meinen Körper darauf, dass Kohlenhydrate etwas Wertvolles sind“, erklärte Gabius im Gespräch mit „Der Welt“ . Seit Abschluss seines Medizinstudiums besitzt er eine Arztzulassung, fokussiert sich zurzeit aber voll auf den Spitzensport – erklärtes Ziel: die olympischen Spiele 2016 in Rio. Normalerweise sei der Kohlenhydratsspeicher eines Marathonläufers nach 32 Kilometern aufgebraucht. „Mein Speicher ist erst nach 42 Kilometern leer“, war er sich sicher.

Ein Event entscheidet über ganze Saison

Im letzten Rennen vor dem Saisonhighlight in Frankfurt stellte Gabius beim „Grand-10-Lauf“ in Berlin mit 28:07 Minuten eine neue persönliche Bestleistung über zehn Kilometer auf. Dennoch zeigte er keine überschwängliche Freude. Die Angst krank zu werden – so kurz vor dem Jahreshighlight – schwebte über allem, auch über diesem Erfolg. Im Zielbereich schnappte er sich unauffällig seine Desinfektionscreme und verschwand rasch im Warmen. In den Wochen vor dem Marathon trug Gabius auf Reisen stets einen Mundschutz. Für den ein oder anderen wirkten diese Vorsichtsmaßnahmen vielleicht übertrieben. Doch für den Athleten waren sie überlebenswichtig. Die 42.195 Meter in Frankfurt sollten darüber entscheiden, ob seine Saison ein Erfolg wird oder nicht. Für Gabius lag das Geld bei diesem einen Event buchstäblich „auf der Straße“. Auf der Bahn verdiene man im besten Fall zwischen 30.000 und 50.000 Euro pro Jahr, skizzierte Gabius. Für die Einstellung des Deutschen Rekords winkten dem Läufer alleine bereits 30.000 Euro. Gemeinsam mit anderen Prämien und Sponsorengeldern sollte es für Deutschlands Läufer Nummer eins am 25. Oktober um rund 100.000 Euro gehen. Geld, für das Gabius das ganze Jahr über hart arbeitet –Krankwerden stellte also keine Option dar. So spulte er in den Tagen vor Frankfurt immer und immer wieder den gleichen Tagesablauf ab: Morgens lief er auf leeren Magen bis zu 25 Kilometer – danach folgte ein Mittagsschlaf. Wenn es dunkel wurde, lief er wieder…

Im Vorfeld des Frankfurt Marathons bestätigte er immer wieder, dass er den Deutschen Rekord knacken könnte. Druck verspürte er nach eigener Aussage keinen: „Ich weiß, dass ich zwischen 2:07 und 2:09 Stunden laufen kann“. Deutsche Läufer hätten in der Vergangenheit zu oft Grenzen im Kopf gehabt. „Vergangenes Jahr sagten sie mir, unter 2:10 Stunden kann kein Deutscher mehr laufen. Jetzt heißt es, 2:06 wäre die Grenze. Das ist Quatsch. Ich habe keine Grenzen im Kopf“, so Gabius.

Seinen Worten ließ der 34-Jährige am Sonntag dann Taten folgen. Am Schluss wurde es ein echtes Herzschlagfinale. 2:08:33 benötigte Gabius, 14 Sekunden schneller als der bisherige deutsche Rekord. Selbst das mörderisch hohe Tempo und die wohl dadurch auftretenden Beschwerden im Bereich der Hüftmuskulatur konnten den gebürtigen Hamburger bei seinem Lauf in die Geschichtsbücher nicht aufhalten. Im Ziel ließ er sich völlig entkräftet zu Boden fallen. Später sagte er gegenüber der DPA mit einem Schmunzeln: „Es wurde ja auch mal Zeit, dass der Rekord gebrochen wird.“ Der neue deutsche Rekord indes reichte in Frankfurt zwar nur zu Rang vier, allerdings mit Tuchfühlung zu den besten Afrikanern. Den Sieg musste der Deutsche Sisay Lemma überlassen. Der Äthiopier gewann in persönlicher Bestzeit von 2:06:26 Stunden vor den Kenianern Lani Ruttound und Alfers Lagat. Den deutschen Meistertitel und das Olympia-Ticket für Rio gab es neben dem neuen Rekord für Gabius gratis dazu. In Rio will Gabius noch schneller laufen. „Dass ich so schnell angelaufen bin, wird mir für die Zukunft viel bringen“, sagte er. „Wertvolle Erfahrungen“ habe er ja schließlich schon seit seinem Debüt an gleicher Stätte im Vorjahr gesammelt. „Und vielleicht laufe ich die zweite Hälfte das nächste Mal ja eine Minute schneller“, blickte Gabius gegenüber den Medienvertretern forsch in die Zukunft.

Harte Kritik an Antidopingkampf

Seine generell forsche Herangehensweise hat ihm in der Szene nicht immer nur Zuspruch eingebracht. Während der Leichtathletik-WM hatte sich Gabius vor laufender Kamera in Rage geredet und ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt für seine Dokumentation über Dopingpraktiken im Läuferland Kenia scharf kritisiert. Im Welt-Interview vor dem Frankfurt-Marathon relativierte er die Kritik teilweise. Klar seien die Enthüllungen Seppelts auch in seinem Interesse und die Bilder hätten auch ihn schockiert. Aber: „Seppelt erzählt in der Doku, er habe aus Kenia gefälschte Ausweise und geheime Dokumente. Klar hat er das – es ist Kenia, ein hochkorruptes Land! Wenn du in Kenia – und ich war dort 16-mal – mit Geld wedelst, erzählen dir die Leute sogar, dass sie drei tanzende Einhörner auf einem Elefanten gesehen haben, und unterschreiben dir das noch notariell“, sagte Gabius vor dem Frankfurt-Marathon. Er sei überzeugt, dass ein Großteil der Läufer sauber sei. „Wir Läufer reden untereinander viel über das Thema. Bei einigen Läufern ist man sich aber fast schon sicher, dass die was nehmen. Die haben Leistungssteigerungen, die wir uns nicht erklären können. Andere haben Manager, die sehr zweifelhaft sind“, urteilte der Deutsche. Der neue deutsche Rekordhalter selbst ist indes um Transparenz bemüht. Seine Trainingspläne und Blutwerte stellt er regelmäßig öffentlich einsichtbar ins Netz. Gleichzeitig fordert er umfassende Reformen. Geht es nach Gabius, müsse die Weltantidopingagentur (WADA) etwa die Kontrollen in Kenia an sich reißen und die dort genommenen Proben unabhängig in anderen Ländern prüfen lassen. Außerdem ist der 34-Jährige ein großer Befürworter des Blutpasses, der als EPO-Nachweis dient. „Das ist eigentlich so einfach umzusetzen und sollte auf der gesamten Langstrecke eingeführt werden.“

Pikant sind zudem einige Aussagen aus dem Interview mit „Der Welt“ zum deutschen System: „Wir Deutschen verhalten uns beim Thema Doping nicht gerade diplomatisch. Wir haben in dieser Hinsicht bekanntermaßen eine sehr belastete Vergangenheit und zeigen empört mit dem Finger auf andere. Wir müssen erst einmal dafür sorgen, dass wir selbst einen sauberen Sport betreiben. Die Nada (Nationale Antidoping-Agentur) ist nicht unabhängig, und ihre finanzielle Absicherung war lange Zeit mies. Es gab in den vergangenen Jahren zwischen September und Dezember kaum Tests, weil die kein Geld mehr hatten. Das hat mir ein Kontrolleur bestätigt. Ob das jetzt noch so ist, kann ich nicht beurteilen:“ Trotz der Dopingproblematik blickt Gabius – mit dem neuen deutschen Rekord im Rücken – positiv in die Zukunft. „Jetzt können die Leute endlich was mit meinen Zeiten anfangen, denn Marathon laufen ja viele“, freut er sich über die öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung. Sein großes Ziel sind nicht nur die Olympischen Spiele nächstes Jahr, sondern vielmehr eine Medaille dort so Gabius. Die forschen Töne ist man ja bereits gewohnt. Und bis jetzt hat er immer Taten folgen lassen.