Eine Mannschafts-WM ohne die etatmäßige Nummer eins – dieses Horrorszenario wird für die deutsche Tischtennis-Nationalmannschaft Realität. Nach Dimitrij Ovtcharovs verletzungsbedingter Absage steigen automatisch die Anforderungen an Spieler wie Patrick Franziska. Kurz vor dem Abflug am heutigen Dienstag in Richtung Kuala Lumpur (Malaysia) hat sich der Odenwälder exklusiv gegenüber sport24-fieber unter anderem zur neuen Rollenverteilung und Zielsetzung im Team, den Gründen für sein Auf und Ab in den vergangenen Monaten sowie zur hitzigen Materialdebatte geäußert, die Teamkollege Timo Boll angestoßen hat.
Ein Interview von Jannik Schneider
sport24-fieber: Patrick, vergangene Woche habt ihr Euch beim Lehrgang unter Bundestrainer Jörg Rosskopf am Deutschen Tischtenniszentrum (DTTZ) in Düsseldorf den letzten Feinschliff für die im Olympiajahr so prestigeträchtige Team-WM geholt. Kurz nach Lehrgangsende am Donnerstag wurde öffentlich, dass Eure Nummer eins Dimitrij Ovtcharov verletzungsbedingt passen muss. Kam diese Hiobsbotschaft auch für Euch ganz plötzlich oder hatte es sich im Training bereits angedeutet? Und wie habt Ihr es als Team aufgefasst?
Patrick Franziska: Völlig überraschend kam es nicht. Er hatte schon länger immer mal wieder kleine „Wehwehchen“ am Rücken und war deswegen auch in Behandlung. Während der vergangenen Trainingswoche haben wir gemerkt, dass es schlimmer wird und er sich nicht ganz so schnell bewegt, wie wir das von ihm gewohnt sind. Eine Weltmeisterschaft sagt man ja nicht einfach so mal ab. Nach Gesprächen mit dem Mannschaftsarzt und dem Trainer wurde die Entscheidung dann getroffen. Wir Spieler haben es endgültig erst auf dem Heimweg erfahren, da wir am Wochenende ja Bundesliga gespielt haben. Natürlich ist das ganz bitter für Dima, aber wir vier und Steffen (Anm. d. Red.: Steffen Mengel wurde nachnominiert) müssen jetzt enger zusammenrücken und in Malaysia auch für Dima gut spielen.
sport24-fieber: Deine Rolle wird sich aufgrund des Ausfalls grundlegend ändern. Hat der Bundestrainer schon mit Dir darüber gesprochen? Siehst Du Dich jetzt als klare Nummer zwei?
Patrick Franziska: Zunächst mal sehe ich mich nicht als klare Nummer zwei! Ich habe in den vergangenen Monaten nicht so gut gespielt, kleine Verletzungen haben mich immer mal wieder zurückgeworfen. Bei großen Turnieren habe ich aber immer gute Leistungen gezeigt, das gibt mir Selbstvertrauen. Wir werden vor Ort vor jedem Spiel gemeinsam mit dem Trainer entscheiden, was die beste Aufstellung sein wird. Ruwen Filus wird sicherlich häufig spielen, viele Mannschaften haben Spieler, die nicht so gut gegen Abwehr spielen können. Allgemein werden wir viel rotieren. Es gibt hinter Timo Boll jedenfalls keine klare Nummer zwei.
sport24-fieber: Du sprichst die Ausgeglichenheit an: Bastian Steger hat momentan die beste Bilanz der TTBL, Ruwen Filus kann mit seinem Abwehrspiel vielen Gegnern gefährlich werden und Steffen Mengel spielt konstant. Jörg Rosskopf hat jetzt schwerere Entscheidungen zu treffen, als mit Ovtcharov, oder?
Patrick Franziska: Klar sind Timo und Dima gegen fast jeden Gegner auf der Welt automatisch Favorit und daher gesetzt. Jetzt müssen wir uns halt ganz, ganz individuell auf den Gegner einstellen, gut erahnen, wie der Gegner aufstellen möchte. Dann spielen Kleinigkeiten eine Rolle. Head-to-Head Vergleiche, Taktik oder auch einfach ein gutes Bauchgefühl, das der Trainer hoffentlich hat.
sport24-fieber: An die vergangene Team-WM vor zwei Jahren in Japan hast Du sicherlich gute Erinnerungen. Damals hast du an Position drei nur im Finale gegen Xu Xin verloren. Vergangenen Herbst waren deine Leistungen bei der EM in Russland dagegen durchwachsener. Welchen Patrick Franziska werden die Fans dieses Mal in Malaysia sehen?
Patrick Franziska: Das ist so kurz vor der Abreise schwer zu sagen. Ich war lange nicht verletzt, konnte die Vorbereitung voll durchziehen, das gibt mir ein gutes Gefühl. In Bestform bin ich sicherlich trotzdem noch nicht, aber das muss ich jetzt auch noch nicht sein, sondern in den entscheidenden Phasen des Turniers.
sport24-fieber: Ist das Ziel der Nationalmannschaft auch ohne Ovtcharov das Finale oder gab es bereits eine Kurskorrektur?
Patrick Franziska: Fest steht mal: Wenn wir alle gute Leistungen zeigen, ist das Finale trotzdem möglich. Wir tun aber gut daran, die Erwartungshaltung etwas zu drosseln und wirklich von Spiel zu Spiel zu denken. Die Gruppenphase gilt es, als Erster zu überstehen. Aber die guten europäischen Teams können uns jederzeit schlagen.
Die Highlights von Franziskas letztjährigem WM-Match gegen Marcos Freitas
sport24-fieber: Provokant gefragt: Macht eine Team-WM nach Ovtcharovs Ausfall für Zuschauer und Medien überhaupt noch Sinn? Immerhin sind die Chancen, dass China im Finale geärgert wird, nicht gerade gestiegen. Könnte ein anderer Modus, eventuell mit einem Doppel etwas mehr Spannung bringen?
Patrick Franziska: Klar ist China der Topfavorit. Aber wir sollten nicht vergessen, dass in Malaysia nicht nur China aufschlägt. Für die Zuschauer wird es viele interessante Begegnungen geben. Die Spitze ist breiter geworden. Neben den Asiaten und Europäern gibt es mittlerweile auch Mannschaften, wie Ägypten, Nigeria oder Indien mit mehreren guten Spielern. Die sind immer für eine Überraschung gut. Ob ein Doppel explizit gegen China etwas bringt, weiß ich nicht. Sie sind ja auch im Doppel Weltmeister (lacht) – aber da auch bei Olympia Doppel gespielt wird, wäre es zumindest eine Überlegung wert. Ich finde es aber auch wichtig, dass man einfach auch respektiert, dass die Chinesen auf einem besonderen Topniveau agieren. Unsere Aufgabe ist es, die anderen zu schlagen und den Abstand mit harter Arbeit zu verringern. Das ist schwer genug.
sport24-fieber: Einer der dabei immer noch helfen kann, ist Timo Boll. Du kannst das ja wegen Eurer gemeinsamen Herkunft im Odenwald und vielen gemeinsamen Trainingseinheiten bestens beurteilen. Wie gut ist er nach seiner überstandenen Knieverletzung wirklich schon wieder?
Patrick Franziska: Timo kann einem immer wieder überraschen und man sollte ihn wirklich nicht abschreiben (lacht). Er hat dieses Talent, sich in ein Turnier richtig ,reinzufuchsen‘, von Spiel zu Spiel besser zu werden. Die Fans können jedenfalls sicher sein: Er hat nichts verlernt, wurde jetzt auch im Training immer stärker. Die Niederlage in der Bundesliga am Sonntag sollte nicht überbewertet werden. Er wird eine starke WM spielen, davon bin ich überzeugt.
sport24-fieber: Das ist mal eine Ansage, auf deren Erfüllung wir uns alle freuen. Deutliche Worte hat Boll zuletzt in Richtung Konkurrenz gefunden. Demnach würden 80 Prozent, darunter auch die Chinesen, Materialdoping betreiben. Was sagst Du zu den Vorwürfen?
Patrick Franziska: Nun ja, was Timo gesagt hat, entspricht schon größtenteils der Wahrheit. Zu dieser gehört aber auch, dass es von Verbandsseite wirklich schwer zu kontrollieren ist. Ich bin jetzt selbst mal gespannt, ob neue Geräte zeitnah eingesetzt werden, die den einen oder anderen Spieler mit getunten Belägen erwischen. Bei vielen Spielern ist das einfach auch nur eine Kopfsache: Manche brauchen dieses Gefühl, wenn der Belag dadurch etwas weicher oder härter wird. Das sind Nuancen für den Kopf des jeweiligen Spielers. Und am Ende entscheidet natürlich auch die persönliche Einstellung, wie etwa bei Timo: Etwas ist verboten, also probiere ich es auch nicht.
sport24-fieber: Ein weiterer Kritikpunkt, den Boll, aber auch Ovtcharov öffentlich angebracht haben, ist die Ballauswahl bei den Turnieren. Was wird bei der Team-WM gespielt?
Patrick Franziska:Der Plastikball von DHS ist ausgewählt für dieses Turnier, also derselbe, wie er etwa bei der Einzel-WM 2015 benutzt wurde – ein gutes Omen hoffentlich für mich! (lacht).
sport24-fieber: Damals hast Du unter anderem Marcos Freitas besiegt (siehe Video oben) und standest überraschend unter den letzten acht. Was zeichnet den Ball denn aus?
Patrick Franziska: Im Vergleich zu dem in der Bundesliga häufiger genutzten Ball von Butterfly springt der DHS-Ball viel flacher ab, nimmt mehr Rotation an. Die Kritik an der unterschiedlichen Ballauswahl je nach Veranstalter ist schon gerechtfertigt. Bei der EM wurde beispielsweise mit einem wirklich guten Nittaku- Ball gespielt und es gab viele sehr lange Ballwechsel – das ist für Zuschauer und Spieler gleichermaßen schön. Frustrierend sind die Bälle, die ,eiern‘ und ständig verspringen. Zum Glück ist der DHS-Ball auch ganz gut und wir konnten jetzt zwei Wochen mit ihm trainieren. Nervig sind dann immer die Wechsel für die Bundesligapartien. Das ist alles andere als leicht. Ich würde mir für die Zukunft auch gern eine einheitliche Lösung wünschen.
sport24-fieber: Abschließend noch eine Frage zur Bundesliga und unserer Arbeit. Wir haben aus sicherer Quelle erfahren, dass Du und weitere Bundesligastars unseren Text zum Zuschauerrückgang in der TTBL gelesen habt. Das Thema beschäftigt ganz Tischtennis-Deutschland. Wie stehst Du dazu? Änderungsvorschläge?
Patrick Franziska: Ja, den Text habe ich tatsächlich komplett gelesen. Ich kenne die Zeit mit größeren Mannschaften und zwei Spieltischen selbst nur noch aus Videos oder als Zuschauer. Da war schon oft mehr los und mehr Action, weil halt an zwei Tischen tolle Ballwechsel gezeigt wurden. Für das Fernsehen – wenn es denn mal da ist – ist die Lösung mit einem Tisch sicherlich sinnvoller. Klar ist doch: Die Zuschauer wollen Ballwechsel sehen, keine langen Handtuch- oder Ballholpausen. Das gesamte Thema ist nicht so einfach. Ich weiß ja aus meiner Zeit in Fulda, dass die TTBL (Hauptsitz Fulda) viel Zeit und Herzblut in die Vermarktung und Verbesserung der Strukturen investiert und sich permanent Gedanken macht. Die Einführung von Doppeln würde jedenfalls Abwechslung reinbringen. Ob es etwas bringt, die Playoffs abzuschaffen, darüber bin ich mir noch nicht ganz im Klaren. Letztlich sollte man jede Mannschaft jederzeit schlagen können, wenn man Deutscher Meister werden will.
Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg in Kuala Lumpur. Das sport24-fieber-Team drückt Euch die Daumen!
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