Tennisspielen, das können sie alle. Der einzige Unterschied zwischen einem sehr guten Spieler und einem absoluten Weltklasseakteur besteht in der Gabe, in den spielentscheidenden Momenten die richtigen Entscheidungen zu treffen und nicht den Kopf zu verlieren. Angelique Kerber war bisher nicht für diese mentale Stärke bekannt. Mit dem Gewinn der Australian Open hat sie aber nicht nur all ihre Kritiker eines Besseren belehrt, sie hat mit dem ersten deutschen Grandslamtitel seit Steffi Graf 1999 Sportgeschichte geschrieben.
Vier Jahre lang war die 28-Jährige bereits unter den Top zehn der Weltrangliste. Kerber stand jedoch immer im Schatten der großen Spielerinnen, weil die gebürtige Bremerin sich medial und marketingtechnisch nicht so gut verkaufte wie andere. Viel mehr noch lag es aber an den bitteren Enttäuschungen, wie etwa den Halbfinalniederlagen bei den US-Open 2011 und in Wimbledon 2013 sowie dem verkorskten Fedcup-Finale 2014 gegen Tschechien. Mitunter wirkte es in den wirklich wichtigen Begegnungen so, als würde sie selbst nicht daran glauben, eine Weltklassespielerin zu sein. Die Experten schlossen sich alsbald ihrer Meinung an. Wer konnte es ihnen verdenken. Das Deutsche Tennis hatte schon lange seine Siegermentalität verloren. Daran konnten auch vier WTA-Titel in 2015 nichts ändern. Bei den Vier Grandslams war spätestens in Runde drei Schluss, bei den Australian Open ereilte sie das Aus bereits in Runde eins.
Danach fand ein erfrischendes Umdenken bei Kerber statt: „Ich denke, ich bin bereit, etwas Großes zu gewinnen“, sagte sie gegenüber dem Sport-Informations-Dienst vor Jahresfrist und ließ nach einer harten Wintervorbereitung (Kerber nahm nochmals vier Kilo ab) das beste Turnier ihre Karriere folgen. In den entscheidenden Begegnungen gegen Victoria Azarenka und Serena Williams war sie nicht nur die fittere Spielerin. Was alle überraschte: Sie war die mental Stärkere. Vor Kerbers Entwicklung und ihrer Leistung in den vergangenen zwei Wochen kann man nur den Hut ziehen.
Zuschauer sehnen sich nach Deutschen Tenniserfolgen
Angelique Kerber ist jetzt eine Grandslam-Siegerin und für das Deutsche Tennis ist dieser Erfolg ein Segen. Kerbers Finalerfolg bescherte Eurosport mit 1,15 Millionen Menschen und einem Marktanteil von 14 Prozent eine Traum-Einschaltquote. Die Zuschauer haben sich regelrecht nach deutschen Tenniserfolgen gesehnt und, dass sie nun Grund zum Jubeln hatten, war längst überfällig und darf gerne so weiter gehen.
Am Wochenende steht bereits der Fed Cup gegen die Schweiz an und mit Kerbers neuer Qualität ist nicht nur dort, sondern auch bei kommenden Grand-Slam-Turnieren ein deutscher Erfolg wieder realistisch.
Im Übrigen könnte sich in naher Zukunft auch ein Mann wieder bis ganz nach vorne spielen. Alexander „Sascha“ Zverev gilt als größte Nachwuchshoffnung Deutschlands und hat vor zwei Jahren bereits die Juniorenkonkurrenz der Australian Open gewonnen. In der diesjährigen Herrenkonkurrenz schied der 18-Jährige in der ersten Runde gegen den späteren Finalisten Andy Murray aus – wahrlich keine Schande. Doch der Weltranglisten 83 ist hoch veranlagt. Einen riesen Aufschlag, eine krachende Vorhand und eine gute Übersicht zeichnen den Teenager schon jetzt aus, dem Davis Cup Team Chef Michael Kohlmann aller Voraussicht nach bereits in der ersten Runde gegen Tschechien eine Bewährungsprobe geben wird. Bleibt er – anders als Tommy Haas – verletzungsfrei ist er, dessen Entwicklung gerade erst begonnen hat, Deutschlands langersehnter Top zehn Spieler. Und was aus einem Top zehn Spieler werden kann, hat nicht zuletzt Angelique Kerber gezeigt.