Er ist Olympiasieger. Er hat den Gesamtweltcup erobert. Er ist Weltmeister geworden, sowohl von der normalen Schanze als auch beim Skifliegen – und dennoch ist Deutschlands Vorzeigeadler Severin Freund noch nicht auf dem Skisprungolymp angekommen. Wenn heute (17.15 Uhr Oberstdorf ARD) die 64. Auflage der prestigeträchtigen Vierschanzentournee startet, kämpft der 27-Jährige nicht nur gegen Topfavorit Peter Prevc, sondern vor allem gegen seine eigene Psyche um den ersten Gesamtsieg bei diesem fast schon mystischen Wettkampf. Und um seinen Ruf als absoluten Ausnahmespringer.

Selbstvertrauen und Psychologie stellen in vielen Sportarten wichtige Komponenten dar. In kaum einer anderen entscheiden sie aber so penibel genau über ein erfolgreiches Abschneiden im Wettkampf, wie beim Skispringen. Für die Athleten gilt es – neben all dem Grundlagentraining aus Kraft und Ausdauer – diesen einen, perfekten Bewegungsablauf für sich zu verinnerlichen. Und diesen dann Anlauf für Anlauf, Absprung für Absprung, Flug für Flug und Landung für Landung abzurufen – entgegen aller Witterungsbedingungen und anderen äußeren Umständen: Erwartungshaltungen bei Fans, Medien und Sponsoren, die bei Weltklassespringern eigentlich nichts anderes fordern, als den Sieg bei der Tournee. Gut, wenn wie bei Sven Hannawald anno 2002 alles wie auf Knopfdruck funktionierte. Hannawald war der letzte Deutsche, der die Tournee gewinnen konnte und der erste Skispringer bis heute überhaupt, der alle vier Springen einer Tournee gewinnen konnte. Gänsehaut vorprogrammiert:

 

Eigentlich hat Freund mindestens genauso oft wie Hannawald gezeigt, dass er diesen Erwartungen standhalten kann. In der vergangenen Saison war er der konstanteste Springer und holte sich folgerichtig, wenn auch knapp dank der Mehranzahl an Einzelsiegen, den Titel des Gesamtweltcupsiegers. Die anderen Erfolge sind bereits oben aufgezählt. Nur bei der Tournee hat der Wahlmünchener, betrachtet man sein Leistungsvermögen, bisher immer versagt. Um den Sportler Severin Freund und seine vergangenen, oft verkorksten Tourneeauftritte besser verstehen zu können, lohnt sich ein Blick zurück auf seine größten Erfolge. Bundestrainer Werner Schuster hat aus dem talentierten, aber fast schon schüchtern wirkenden Freund über die Jahre hinweg einen herausragenden Skispringer geformt, der immer dann herausragte, wenn er aus negativen Erfahrungen gelernt und vor Selbstvertrauen gestrotzt hat. Beispiel gefällig? Die Olympiasaison 2013/14: Nach einem tollen Start in die Weltcupsaison konnte  der damals 25-Jährige den hohen Erwartungen bei der Tournee nicht gerecht werden. Am Ende stand ein durchschnittlicher 16. Platz zu Buche. Dabei war Freund zu diesem Zeitpunkt bereits viel mehr als nur Durchschnitt. Nach weiteren Weltcupsiegen fuhr er zwei Monate später als Favorit zu den olympischen Spielen in Sotchi, wurde auf der Großchance jedoch nur enttäuschender Vierter. Dennoch führte er seine Kollegen mit ausgezeichneten Sprüngen im Teamwettbewerb nur wenige Tage später zum Olympiasieg. Mit diesem Erfolg im Rücken sicherte sich Severin Freund wenige Wochen später wie selbstverständlich den Titel bei der Skiflug-Weltmeisterschaft.

Dank Selbstvertrauen zum WM-Titel

In der vergangenen Saison reichte es bei der Tournee nur zu Rang 8. Davor und danach ragte er erneut im Weltcup heraus. Bei der Weltmeisterschaft am Saisonende sahen Fans und Medien dann erneut einen typischen Freund. Auf der Normalschanze wirkte er im zweiten Durchgang nervös, vergab den Titel und musste sich mit Silber begnügen. Nachdem er jedoch im erstmals ausgetragenen Mixed-Wettbewerb Deutschland zum Titel führte, sorgte das gestiegene Selbstvertrauen dafür, dass er beim Einzelwettbewerb auf der Großschanze allen davonflog.

22 Punkte Vorsprung waren es damals, Freund zeigte eine Demonstration des eigenen Leistungsvermögens, die er mit dem Gewinn des Gesamtweltcups abrundete.
Neun Monate später scheint das fast vergessen. Bei der Wahl zu Deutschlands Sportler des Jahres musste er sich trotz beider Titel Triathlet Jan Frodeno geschlagen geben. Mehr als 100 Journalisten hatten sich für den Iron Man und damit gegen Freund entschieden – wohl auch wegen der verkorksten Vierschanzentournee. Die zählt nämlich in Freunds Sportart mindestens genauso viel, wie ein WM- oder Olympiasieg. Viele Springer richten ihre Trainingsplanung daher nach diesen vier Wettkampfen zwischen dem 28. Dezember und dem 6. Januar. Viele versuchen das, weil die Medienpräsenz, das Zuschaueraufkommen und das Preisgeld nirgends höher ist, als bei dem deutsch-österreichichem Event – und wohl auch deshalb, weil der perfekte Sprung im Skispringen nur äußerst schwer über eine ganze Saison zu konservieren ist. Dann doch lieber zeigen, wenn alle zuschauen, oder?

„Misica“ Topfavorit auf Vierschanzentournee-Titel

Einer, der während eines ganzen Winters glänzen kann, ist der Slowene Peter Prevc. Der 23-Jährige gilt als der Topfavorit auf den Tournee-Titel. Prevc war in dieser Saison bereits dreimal Zweiter – die vergangenen drei Weltcups, darunter die Generalprobe in Engelberg, konnte der Weltcupführende allesamt für sich entscheiden. Der Vorjahresdritte lebt von seinem herausragenden Absprung, nicht umsonst wird er in seiner Heimat „Misica“ Muskel genannt. Geht ihm diese Stärke während der vier Wettkämpfe nicht verloren, wird er nur schwer zu schlagen sein. Doch in Engelberg leistete ihm plötzlich sein erst 16-jähriger Bruder Gesellschaft auf dem Podium, Domen, wurde überraschend Zweiter. „Fast schon beängstigend“, nannte das Bundestrainer Schuster gegenüber der F.A.Z, der dem 16-Jährigen ein überragendes Flugsystem attestiert. So könnte es durchaus sein, dass der Teenager auch beim Saisonhöhepunkt in die vorderen Platzierungen hineinspringt. Dort, wo sich die japanische Legende Noriaki Kasai seit 20 Jahren bestens auskennt. In Engelberg wurde der 43 (!)-Jährige Dritter. Skispringen ist nicht nur wegen des Phänomens Kasai eine verrückte Sportart.

Denn auch, wenn die meisten Experten einen Zweikampf zwischen Prevc und Freund erwarten, gibt es einige Springer, die auf den begehrten Titel schielen. Da wäre zum einen das norwegische Trio um Kennenth Gangnes, Daniel-Andre Tande und Johann Andre Forfang, die allesamt jederzeit für einen Sieg in Frage kommen. Jedoch fehlt ihnen die Konstanz für eine herausragende Leistung über acht Sprünge und damit auch für den Gesamtsieg. Jene Qualität die Österreichs Springer sieben Tourneesieger in Folge hat erringen lassen. Von der totalen Dominanz ist in diesem Winter aber kaum noch etwas übrig geblieben. Vorjahressieger Stefan Kraft springt seiner Form hinterher. Sein bestes Ergebnis war ein vierter Rang in Lillehammer. Doch das heißt bei Kraft bekanntlich nichts. Auch vor Beginn der letztjährigen Tournee schleppte sich der 22-Jährige durch die Saison, bevor er plötzlich und unerwartet aufblühte. Aufblühen ist die richtige Vokabel für den Vorjahreszweiten Michael Hayböck. Der Linzer kommt rechtzeitig zum Saisonhöhepunkt in Form. Nach schwachen Ergebnissen gelangen ihm zuletzt zwei zweite Plätze.

Großes Fragezeichen hinter Schlierenzauer

Am Interessantesten, aber auch Schwierigsten ist jedoch die Personalie Gregor Schlierenzauer. Der Tiroler, Olympiasieger, Weltmeister, mit 53 Weltcup-Siegen Erster der Bestenliste, zog sich kurz nach Beginn der Saison auf eigene Initiative aus der Öffentlichkeit zurück. So wie es Österreichs Bundestrainer Heinz Kuttin formulierte, habe sich Schlierenzauer mit seinem Hang zur Perfektion, der ihn zu einem Athleten machte, zu dem alle aufschauten, einen Druck aufgeladen, dem er nicht mehr gewachsen war. Als er unlängst nicht die gewohnten Resultate erzielte und die Versuche gegenzusteuern wenig Wirkung zeigten – Schlierenzauer wollte unter anderem mit Alpin-Ski von Kinder-Kleinschanzen seinen Bewegungsablauf neu koordinieren -, sei für den 25-Jährigen „innerlich ein Kartenhaus zusammengefallen“. Kuttin fügte in der F.A.Z an: „Er ist sicherlich erschöpft.“ Auf die Frage, ob Schlierenzauer vom Burnout-Syndrom betroffen sei, antwortete der Coach vielsagend: „Ich bin kein Arzt, ich kann das nicht beurteilen, aber er ist in medizinischer Behandlung. Kurz vor Beginn der Tournee meldete sich der herausragende Springer der vergangenen Jahre jedoch zurück.

Zum Favoritenkreis kann man ihn jedoch nicht zählen. Auch, wenn es Schlierenzauer wohl schon wieder viel besser geht, kann er als ein mahnendes Beispiel für Severin Freund dienen. Der Druck, der auf dem Deutschen lastet und die Erwartungshaltung, die er an sich selbst hat, sind immens. Es bleibt ihm zu wünschen, dass er sein Sprungsystem abrufen kann, so wie er das bereits unzählige Male bei Weltcup-, WM- und Olympiaerfolgen unter Beweis gestellt hat. Dann steht einer erfolgreichen Vierschanzentournee und einem tollen Zweikampf mit Peter Prevc nichts mehr im Weg.