Nach der EM ist vor der EM! Zwei Wochen nach der Kontinentalmeisterschaft der Profis schlagen Europas beste Behindertensportler im dänischen Vejle auf, darunter auch zahlreiche deutsche Medaillenaspiranten! Und das, obwohl unsere Nationalspieler deutlich schlechtere Voraussetzungen haben als die internationale Konkurrenz.
Reich wird er nicht. Aber es langt, um als Leistungssportler zu überleben. Und das ist in seiner Branche in Deutschland eine Rarität. Tom Schmidberger ist Behindertensportler. Genauer, Rollstuhl-Nationalspieler im Tischtennis. Vor dem Kindergarten wurde er einst angefahren. Heute startet er im dänischen Vejle die Mission Titelverteidigung bei der Europameisterschaft. Es ist die wichtigste Standortbestimmung im vorparalympischen Jahr. Bereits vor zwei Jahren konnte er sich im italienischen Lignano seinen ersten Europameisterschaftstitel sichern. Trainiert hat der Weltranglistenzweite in der Wettkampfklasse drei (WK 3) dafür, wie die vergangenen Jahre auch, fast täglich. Schulterklopfen? Bekommt er höchstens von seinem privaten Umfeld. Preisgeld? Gibt es keines. Öffentliche Wahrnehmung? Wer weiß, wie wenig Beachtung die Medien der Europameisterschaft im Nichtbehindertensport geschenkt haben, der kann sicher eins plus eins zusammenrechnen.
Deutlich professionellere Strukturen im Ausland
Klar, ganz weit hinten am Horizont gibt es dieses eine große Event, die Paralympics. Das Turnier, das den Behindertensport alle vier Jahre für kurze Zeit in eine Parallelgesellschaft versetzt, gespickt mit professionellen Strukturen, medialer Aufmerksamkeit und sogar mehreren tausend Zuschauern. Jeder ambitionierte Behindertensportler will das erleben. Und wer das wie Schmidberger bereits einmal erleben durfte – nach zwei Medaillen in London 2012 war er sogar Fahnenträger der Abschlussfeier – der kann sich daraus eine Menge Motivation für die nächsten dreieinhalb Jahre ziehen.
Diese Motivation ist im Jahr 2015 dringend erforderlich. Die Zeiten, in denen es quasi ausreichte, mit einer Behinderung und einem Schläger an den Start zu gehen und dafür mit einer Paralympicsteilnahme belohnt zu werden, sind längst vorbei. Behindertensport ist Leistungssport. Das ist außerhalb der Szene noch nicht überall in der Gesellschaft angekommen, aber Realität. Zur Wahrheit gehört ebenso, dass so ziemlich jedes Land mehr finanzielle Ressourcen für deren Spieler zur Verfügung stellt als Deutschland. Die Gegner von Schmidberger, der im Nichtbehindertensport bereits in der Bayernliga aufgeschlagen hat, und seinen Nationalmannschaftskollegen sind Profis, mindestens aber Halbprofis. Von den 23 Deutschen EM-Teilnehmern kann das nicht mal eine Handvoll von sich behaupten.
Stattdessen gehen sie einer geregelten Arbeit nach, studieren oder vereinen beides. Nebenbei wird noch das Trainingsprogramm abgespult. Bei Schmidberger sind das, je nach Trainingsphase, vier bis acht Einheiten die Woche, die er entweder in Bayreuth (dort studiert er Sportökonomie), in seiner bayrischen Heimat oder am Deutschen Tischtenniszentrum in Düsseldorf (DTTZ) abspult. Hinzu kommen Kraft- und Mentaltraining. Gewinnt Schmidberger 2016 paralympisches Gold, bekommt er einmalig 15000 Euro. Zum Vergleich: Wenn ein Pole paralympisches Gold oder einen WM-Titel ergattert, bekommt er für den Rest seines Lebens eine üppige Frührente vom Staat.
Viele Investitionen in eine ungewisse Zukunft
Die 15000 Euro sind aber mindestens der Betrag, den der junge Deutsche in den beiden Jahren vor dem Großevent für Turniere und Fahrtkosten bezahlt hat. Doch Tom ist da, anders als viele andere Spieler, noch gut aufgestellt. Er kann sich auf private und einige wenige regionale Sponsoren verlassen. Er pflegt seine Facebookseite und hat sich so eine kleine Fanbasis aufgebaut. Dank seiner zahlreichen Erfolge ist er zudem im Topteam des Deutschen Behindertensportverbandes(DBS) und damit oben angelangt im Förderprogramm des DBS. Das heißt, er bekommt im Monat 400 Euro von der Deutschen Sporthilfe.
Doch um dort hinzukommen, braucht man herausragende Erfolge. Um die zu erreichen, braucht es jede Menge Training und internationale Wettkampfhärte. Dazu muss ein Sportler nicht nur viel Zeit und Engagement aufwenden, sondern auch jede Menge Geld investieren. Ein Weltcupturnier im Behindertensport kostet um die 700 Euro (wenn man billige Flüge findet). Ein A-Kaderathlet wie Tom bekommt zwei bis drei Turniere vom DBS gezahlt, muss aber rund acht Turniere in zwei Jahren spielen, um sich für Großereignisse zu qualifizieren. Ein C-Kadermitglied – auch U 25-Kader genannt – bekommt im Regelfall exakt ein Turnier im Jahr gezahlt. Fühlt man sich also spielerisch bereit, sich in der Weltrangliste nach oben zu boxen, muss man viel Geld investieren, ohne zu wissen, ob es sich später lohnt. Die Konkurrenz im Ausland lacht sich ob dieser Zustände kaputt. Mitunter haben sie nur ein Kopfschütteln für die deutschen Akteure, besser für die deutschen Funktionäre parat. Tenor: So ein reiches Land und so wenig (finanzielle) Förderung?
Trainingspläne wie die Profis
In dieser Situation befinden sich in Deutschland viele Sportler. Einer davon ist Yannik Rüddenklau. Der rechte Unterschenkel des 18-Jährigen wurde in Folge einer Krebserkrankung amputiert als er klein war. Heute ist er der erfolgreichste Nachwuchssportler im Tischtennis-Behindertensport. Dank seiner beiden deutschen Meistertitel ist er zum Hessischen Nachwuchssportler des Jahres gewählt worden. In seiner Wettkampfklasse (WK) neun (leichte Behinderung am Nichtschlagarm und oder am Bein) belegt er Platz 29 in der Weltrangliste. Je nach WK qualifizieren sich die ersten 8 bis 16 Spieler für das Großereignis. Deshalb kommt Rio für den Nordhessen wohl noch etwas zu früh. Für die EM indes hat er sich dank einer hohen Selbstdisziplin qualifiziert. Trotz Abitur-Stress, den er erfolgreich bewältigt hat, trainiert auch Yannik ähnliche Umfänge wie Tom. Im Kraftbereich hat er sich von Nationalmannschafts-Co-Trainer Michele Comparato einen Trainingsplan erstellen lassen, um stabiler im Rumpfbereich zu werden und, um seinen Stumpf mehr Kraft zu verleihen. Denn ohne bessere körperliche Vorrausetzungen reicht es in seiner WK nicht für die erweiterte Weltspitze.
Um dort hinzugelangen, ist er direkt nach dem Abitur nach Düsseldorf gezogen, um regelmäßig im DTTZ zu trainieren. Der Landesligaspieler fängt dort zudem ein BWL-Studium an. Die nächsten zwei Jahre will er er aber die Priorität auf Tischtennis legen, um zu schauen, wie weit er kommt. Eine mutige Entscheidung, die hoffentlich belohnt wird.
Mutig muss man ohnehin sein, wenn man im Behindertensport aktiv ist. Geschenkt bekommt man nichts. Und Garantie für Erfolge gibt es auch keine. Letztlich ist es die Liebe für den (Leistungs)sport und der Wille, sich an die absolute Leistungsgrenze zu bringen, der alle Deutschen Nationalspieler antreibt und trotz Alltag solche Umfänge trainieren lässt.
Deswegen haben es Tom, Yannik und alle anderen Deutschen Nationalspieler verdient, eine erfolgreiche EM zu spielen. Heute geht es mit dem Einzelwettbewerb los. Der Veranstalter hat sogar einen Livestream eingerichtet. Sport24-fieber wünscht allen ganz viel Glück.
Einen ausführlichen Vorbericht über die deutsche Nationalmannschaft haben die Kollegen von mytischtennis.de veröffentlicht.
Im Übrigen hat sich der Ausrichter perfekt vorbereitet: Hier geht es zu den 12 Live-Streams der Europameisterschaften. Die Wettkämpfe starten am heutigen Montagmorgen.