Im Biathlon wurde innerhalb kürzester Zeit der bereits zweite Athlet wegen Dopings vom Weltverband gesperrt. In der Leichtathletik wurde gar der gesamte russische Verband nach den Dopingenthüllungen einer ARD-Dokumentation von sämtlichen internationalen Wettkämpfen suspendiert. Dabei sind halbwegs clevere Doper eigentlich nicht zu entdecken, sagt zumindest der stellvertretende Vorsitzende der Evaluierungskommission der Freiburger Sportmedizin, Hellmut Mahler.

Hauptgrund dafür seien neue Designer-Doping-Stoffe, die sich für jeden individuell synthetisieren ließen, sagte Mahler in einem brisanten Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Laut Mahler, der zudem Sachverständiger für Betäubungsmitteluntersuchungen beim Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen ist, würden dies beispielsweise Syntheselabore in China oder Indien übernehmen, die sich einfach über das Internet ausfindig machen ließen. Sie hätten die Gelegenheit, nahezu jeden gewünschten Stoff herzustellen.
„Früher war es nicht möglich, Substanzen auf Wunsch zu erhalten. Man musste sie selbst synthetisieren oder aufwendig nach entsprechend ausgebildeten Personen suchen, die das für einen machen“, erklärt der Sportmediziner.

Diese Zeiten seien nun vorbei. Mahler zeigt am Beispiel des Wachstumshormons Epo die Schwierigkeiten auf, die hinter der Analyse dieser individualisierten Stoffe stecken. Epo könne mithilfe unzähliger Verbindungen synthetisiert werden, von denen heute aber nur ein Bruchteil bekannt sind. Bereits eine geringe Änderung an einer dieser Verbindungen „verunmöglicht den Nachweis, weil dieser minimal veränderte Stoff zwar noch die gewünschte Wirkung zeigt, aber niemandem bekannt ist.“ Diese Problematik gelte nicht nur für EPO: „Es gibt ein Meer von möglichen Designer-Stoffen, Millionen und Abermillionen denkbarer Verbindungen, die niemand kennen kann.“

Ohne konkretes Suchobjekt chancenlos

Die Folge sei, dass die Analytiker schlicht nicht mehr wissen, wonach sie suchen sollen. „Da ist was im Heuhaufen, das war vorhin nicht drin – viel Spaß beim Suchen!“ beschreibt Mahler die momentane Situation seiner Kollegen. Ohne ein konkretes Suchobjekt könne keine geordnete Entdeckung und Strukturaufklärung geleistet werden. Die Schere zwischen Entdeckungsrisiko und vordergründigem Nutzen sei momentan bei dieser Art des Dopings zu groß, die Gefahr ertappt zu werden zu gering. So werde sich der Status quo, bei dem sich viele Sportler ihre eigenen Doping-Mittel produzieren ließen, auf absehbare Zeit auch nicht ändern.

Die Situation sei für die Kriminaltechniker zwar nicht neu, wohl aber deren Dimension. Es gibt Konsumenten, die sämtliche Substanzen, die womöglich irgendeine Wirkung auslösen, zu sich nehmen. Diese „Omnivoren“ – also Allesfresser – probierten auch die erhältlichen Designerstoffe der bekannten Dopingpräparate aus, ohne Rücksicht auf deren Nebenwirkungen. Und die können laut Mahler gravierend sein: „Bei der Einnahme von synthetisierten Epo-Stimulanzien weiß der Doper zum Beispiel gar nicht, wie lange die Wirkung anhält“. Eine mögliche Folge sei beispielsweise eine lebensgefährliche Blutverdickung.

„Welle an Erkrankungen und Leid kommt auf uns zu“

Weiterhin fehle es bei vielen dieser Stoffe an Forschungswissen, sodass auch ein positiver Zusammenhang mit der Entstehung von Krebs nicht ausgeschlossen werden könne. Fest steht für Mahler, dass die Konsumenten dieser neuen individualisierten Designerstoffe ihr Leben riskieren. „Hier kommt eine Welle an Erkrankungen und Leid auf die Konsumenten und die Gesellschaft zu, die wir so nicht hatten, die wir später auch nur schwer eruieren können, weil wir nicht wissen, was die Erkrankten früher wirklich konsumiert hatten“, blickt Mahler in die Zukunft.

Denn abschreckend wirkt diese augenscheinliche Gesundheitsgefahr auf die Doper nicht. Mahler führt das Mittel Melanotan II an, welches zur Bräunung der Haut eingesetzt wird, aber wegen unerwünschter Nebenwirkungen nie freigegeben worden ist. Von vielen Bodybuildern werde es trotzdem gespritzt, da sie aufgrund ihrer dünnen Haut nicht mehr ins Solarium gehen wollen. „Wenn ein Mensch bereit ist, Mittel zu spritzen, die von irgendjemandem unter irgendwelchen Bedingungen hergestellt wurden, nur um braun zu werden: Was tut er dann, wenn es um seine Leistungsfähigkeit geht, um Erfolge, Siege, um ein Lebensziel?“

Ganze Organisationen oder gar Staaten involviert?

Anscheinend schreckt er dann vor nichts zurück. Auch nicht davor, eine ganze Produktion einer designten Substanz zu kaufen. Denn nur so, sagt Mahler, könne der Doper steuern, dass die Substanz nicht nachweisbar bleibt. Ein Erscheinen auf dem Schwarzmarkt und eine Weiterleitung an Analytiker wäre fatal, da diese dann kaum Probleme hätten, das Dopingmittel nachzuweisen. Bleibt die Substanz jedoch im Verborgenen, sei die Entdeckungswahrscheinlichkeit verschwindend gering. Mahler wirft auch die Möglichkeit auf, dass nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Organisationen oder ein ganzer Staat als Nachfrager in Betracht kommen könnten. Ohne einen Whistleblower hätte man kaum eine Chance, systematisches Doping aufzudecken. „Das ist natürlich kriminalistisch gedacht, aber ganz sicher nicht völlig aus der Luft gegriffen.“

Zum Abschluss nimmt der Sportmediziner den Gesetzgeber in die Pflicht. „Er muss Regeln schaffen, die der veränderten Situation, den neuen Möglichkeiten und den neuen Gefahren gerecht werden.“ Der Markt habe die Analytiker abgehängt. Diese könnten nun nichts mehr tun, es gelte den Markt zu bremsen: „Wir täten dem Staat, dem Sport, den Menschen damit Gutes.“

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