„Wieviele Punkte hast du?“; „Heute habe ich schon wieder 10 Punkte verloren!“; „Ich hab‘ endlich die 1800er Marke geknackt.“
Was sich für Fachfremde eventuell anhört wie Statements über Klausurnoten oder aus den Tiefen der Onlinegamer-Kultur, gehört in Wirklichkeit zum Sprachgebrauch eines Großteils der deutschen Tischtennis-Community. Die sogenannten TTR-Werte haben Einfluss auf den Spielbetrieb genommen – und zwar einen Gewaltigen. Denn die offensichtliche Leistungsstärke jedes Einzelnen ist an dieser Kennziffer messbar und für alle ersichtlich.
Alles begann mit dem Internetportal mytischtennis.de, das letzte Woche fünften Geburtstag gefeiert hat. Ein guter Zeitpunkt also, zu schauen, ob und wenn ja, wie der TTR-Wert die Einstellung der Aktiven zu Turnierteilnahmen oder zum Tischtennis allgemein verändert hat. Wie gehen die Spieler mit den Punkten im Rücken tatsächlich um und ist das dann überhaupt wünschenswert?
Fest steht, dass sich die Bewertung vollends im Tischtennissport etabliert hat und nicht mehr wegzudenken ist. Kaum ein Turnier ist nicht mehr TTR-relevant, was direkte und indirekte Folgen auf das Verhalten und die Einstellung der Spieler in Bezug auf Turniere und Meisterschaften hat.
Denn wer die Tischtennis-Gemeinde genau beobachtet, kann unterschiedliche Umgangsformen mit den TTR-Punkten ausmachen:

2 Gruppierungen mit fragwürdiger Denkweise

Da gibt es das eine Lager, das einfach keine Turniere mehr spielt. Schlichtweg weil diese Spieler Angst haben, TTR- Punkte zu verlieren.
Diesem Extrem stehen Spielerinnen und Spieler gegenüber, die nur noch an Meisterschaften teilnehmen, bei denen es TTR-Punkte zu ergattern gibt, da ihnen sonst der Reiz einer Teilnahme fehlen würde.
Natürlich sind auch noch genügend Spieler aktiv, die ihre Einstellung gegenüber dem Tischtennissport und im Speziellen gegenüber Turnierteilnahmen seit der Einführung nicht geändert haben. Dennoch zeigt die jüngste Vergangenheit, dass sich die beiden oben genannten Gruppen in der Mitte der Tischtennisgemeinde etabliert haben. Das ist nicht nur problematisch für Turnierorganisatoren, denen Startgelder flöten gehen, sondern fatal für den gesamten Tischtennissport.

Beiden Gruppierungen liegt eine falsche Denkweise zugrunde. Sowohl die Turnierverweigerer als auch diejenigen, denen Tischtennis nur noch mit TTR-Bezug Spaß macht, stellen eine nackte Zahl über den Spaß am Sport. Stand vor der Einführung noch die sportliche Betätigung, Geselligkeit und Freude am kleinen Zelluloidball bei einer Turnieranmeldung im Mittelpunkt, spielt heute in hohem Maße ein gewisses Kalkül eine Rolle:
Wie bin ich wertemäßig gegenüber meinen Teamkollegen aufgestellt? Könnte ich wichtige Punkte verlieren und so in der Mannschaftsaufstellung nach hinten rutschen? Stehe ich kurz vor einer für mich wichtigen Punktzahl und will mir durch einen schlechten Tag nicht die Chance nehmen, diese zu erreichen oder einzig und allein aus dem Grund mitspielen, um die gesetzte Schallmauer zu durchbrechen?
Das kann nicht der richtige Weg sein. Denn, um es mit den Worten eines bekannten deutschen Fußballfunktionärs auszudrücken: Wer seine Teilnahme von seinem aktuellen TTR-Ranking abhängig macht, der hat Tischtennis nie geliebt!

Der TTR-Wert ist das ausschlaggebende Maß für die Aufstellung im normalen Mannschaftsspielbetrieb. So ist es in seltenen Fällen verständlich, die eigene TTR-Situation vor einer möglichen Turnierteilnahme zu überprüfen. Ein Beispiel: Ein Spieler überlegt sich am 09.12. – also zwei Tage vor dem Q-TTR Stichtag, der maßgeblich für die Mannschaftsaufstellung in der Rückrunde verantwortlich ist – ein Turnier zu spielen. Im Verein agiert er auf Position sechs der ersten Mannschaft, hat aber durch unglückliche Niederlagen in der Vorrunde schon Punkterückstand auf die Nummer eins des Reserveteams. Dieser Rückstand liegt jedoch noch gerade im Toleranzbereich. Er könnte also nach jetzigem Stand in der ersten Mannschaft bleiben, in der es ihm unter Gleichaltrigen ungemein viel Spaß macht zu spielen.
Natürlich überlegt er sich unter diesen Voraussetzungen zweimal, ob er bei dem besagten Turnier mitspielt. Denn die Auswirkungen eines schlechten Turniertages könnten immens sein und sich mindestens auf eine ganze Halbserie im Mannschaftsspielbetrieb niederschlagen:

Die Teilnehmerzahlen bei den Kreismeisterschaften sinken

Eine durchaus verständliche Situation also. Doch viele Tischtennisspieler verhalten sich auch in TTR-unkritischen Situationen genau auf diese Art: Sie bleiben Turnieren fern. Belegbar ist das etwa anhand der Teilnehmerzahlen bei Kreismeisterschaften der Erwachsenen in Hessen. Kreistitelkämpfe eignen sich für eine Analyse gut, da zur Teilnahme keine Qualifikation nötig ist. Aktive, die dieses Turnier spielen wollen, melden sich einfach an. Jedoch geht diese Zahl der Spieler zurück:

Haben 2011 noch 2562 Aktive in ganz Hessen Kreismeisterschaften gespielt, so sank die Teilnehmerzahl mit den Jahren kontinuierlich: 2394 waren es im Jahr 2012, 2301 in 2013 und schließlich 2218 im vergangenen Jahr. Das entspricht einem Minus von 13,4 Prozent in 3 Jahren.
Um die Teilnehmerzahlen vor und nach der Einführung des TTR Rankings zur Saison 2010/2011 besser vergleichen zu können, kann auf frühere Daten zurückgegriffen werden. Sport24-fieber.de liegen Zahlen aus sechs hessischen Kreisen vor.
Von 2007 bis 2010 blieben die Zahlen etwa auf einem Niveau (773 Teilnahmen in 2007 und 766 in 2010), während im gleichen Zeitraum ab 2011 ein kontinuierlicher Abwärtstrend erkennbar ist (682, 670, 666, 553 Teilnahmen). Lag der Teilnehmerschwund in der „Vor-TTR-Zeit“ also noch bei unter einem Prozent, so haben nach der Einführung 18,9 Prozent weniger Tischtennisspieler den Weg zu Kreismeisterschaften in diesen Kreisen gefunden.

Der Auszug der sechs Kreise zeigt einen deutlichen Trend: Die Teilnehmerzahlen bei Kreismeisterschaften in der letzten Zeit fallen deutlich und das vor allem ab 2011, dem Jahr der Einführung des TTR-Rankings. Ein negativer Zusammenhang zwischen der Anzahl der Turnieranmeldungen und der Einführung des TTR-Werts ist auf Grundlage dieser Daten also zumindest nicht unwahrscheinlich.
Dieses Ergebnis impliziert jedoch nicht automatisch, dass das Ranking wieder abgeschafft werden soll. Im Gegenteil: Aktive müssen sich immer wieder die großen Vorteile dieser Kennzahl vor Augen führen:

Die Ursache für den Rückgang ist nicht der TTR-Wert an sich, sondern der Umgang mit diesem

Nur durch den TTR Wert ist es heute möglich, Ergebnisse von offenen Turnieren oder Qualifikationsturnieren jeder Ebene, in der Mannschaftsaufstellung zu berücksichtigen. Dies erhöht die Fairness im Vergleich zur früheren Regelung ungemein, als für Mannschaftsmeldungen in der kommenden Spielzeit nur die Bilanz der vergangenen Verbandsrunde zählte. Vor allem junge und motivierte Spieler, die viele erfolgreiche, aber unbewertete Turniere bestritten hatten, mussten sich in ihrem Team weiterhin hintenanstellen, weil sie eventuell mit der Spielweise der älteren Spieler in der Runde noch nicht zurechtkamen. Der Sprung nach oben ist für diese Akteure durch das TTR-System einfacher.
Zudem ist die Einführung einer einheitlichen deutschen Rangliste, in der sämtliche Tischtennisspieler, seien es Bundesligaprofis oder Aktive aus der Kreisklasse, Frauen oder Männer, Schüler oder Senioren gelistet sind, ein großes Plus für die Sportart Tischtennis. Es ist für jeden ersichtlich, wie er im Vergleich zu Spielern auf Kreis-, Verbands- oder Jahrgangsebene positioniert ist. Hätte jemand vor zehn Jahren prophezeit, dass es diese Möglichkeiten geben wird, dann hätten sich Tischtennisspieler wohl sehr darauf gefreut und die Einführung des TTR-Wertes kaum erwarten können.

Und genau dieser positiven Sichtweise sollte heute, knapp fünf Jahre nach Einführung, wieder mehr Gewicht zugeschrieben werden. Denn nicht der TTR-Wert ist die Ursache für das Problem der rückläufigen Turnierteilnahmen, sondern der Umgang der Aktiven mit dieser Kennzahl.
Wenn die Spielerinnen und Spieler wieder begreifen, von welchen Vorteilen sie bei Meisterschaften oder Ranglisten profitieren können, egal ob mit oder ohne TTR-Relevanz, dann steigen die Teilnehmerzahlen auch wieder an:
Einerseits entwickelt man sich durch Turniere sportlich weiter. Die Spielerinnen und Spieler erhalten nicht nur Wettkampfpraxis, sondern treffen auch auf völlig neue Gegner und können sich so spielerisch weiterentwickeln. Auch über diese sportliche Komponente hinaus sind Turniere eine Bereicherung. Denn für das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Tischtennis-Community sind solche Veranstaltungen ebenso essentiell. Man trifft nicht immer dieselben bekannten Gesichter aus der Mannschaft oder Liga, sondern viele neue Spieler- und Charaktertypen, zu denen auch privat Kontakte und Freundschaften entstehen können. Idealerweise würde sich dann eine gewisse Eigendynamik entwickeln: Mit der Zahl der Turnierteilnehmer steige die spielerische und charakterliche Unterschiedlichkeit der Spieler. Dies stelle wiederum einen Mehrwert für die teilnehmenden Akteure dar und sollte somit die Anmeldezahlen rekursiv positiv beeinflussen. Vor allem tischtennisbegeisterte Kinder und Jugendliche sollten dazu ermuntert werden, jedes Turnier mitzunehmen, für das sie Zeit finden. Denn später wird gerne auf diese Veranstaltungen zurückgeblickt und sich vor allem an schöne und lustige Dinge erinnert, die nicht direkt am, sondern abseits des Tisches stattgefunden haben. In diesen Erzählungen wird der TTR-Wert mit Sicherheit keine Rolle spielen.

Seht den TTR-Wert als Geschenk

Und so gibt es am Schluss dann auch eine gute Nachricht zu verkünden: Im laufenden Jahr sind die Teilnehmerzahlen bei den Kreismeisterschaften in Hessen wieder angestiegen: Insgesamt nahmen 2403 Spielerinnen und Spieler (+8 Prozent im Vergleich zu 2014) in ganz Hessen und 594 Aktive (+7,4 Prozent) in den sechs ausgewählten Kreisen teil. Ist dies jetzt nur ein vorübergehendes Hoch beziehungsweise eine normale statistische Schwankung oder markiert es den Start für eine Entwicklung hin zu langfristig höheren Turnierbeteiligungen?

Hoffentlich Letzteres, denn: Tischtennis ist und bleibt für einen großen Teil der Spieler Hobby und so sollte es auch in Jahr fünf nach Einführung des TTR-Wertes betrachtet werden. Seht den TTR-Wert als Geschenk, der den Spaß am Tischtennis weiter erhöht hat, da er Euch mit Spielern aus ganz Deutschland vergleichbar macht und eure Leistungen in Form einer Zahl konkretisiert und veranschaulicht.
Lasst bei euren Entscheidungen pro oder contra Turnierteilnahmen eure TTR-Situation außer Acht! Denn nur so können die Hallen mit Aktiven gefüllt, Freude am Tischtennis vermittelt und Werbung für den Sport gemacht werden. Nur so könnt ihr euch sportlich weiterentwickeln, weil ihr gegen neue, unbekannte Gegner spielen dürft! Nur so seid ihr Teil einer tollen Community und einzigartigen Turnier-Atmosphäre! Macht euch bitte nicht zu viele Gedanken, denn unser Sport ist schon kompliziert genug. Aber er ist zu schön, um ihm wegen einer (hoffentlich) 4-stelligen Zahl fernzubleiben. In diesem Sinne: Geht’s raus und spielt’s Tischtennis!

Ein lesenswerter und auf diesen Artikel bezugnehmender Beitrag befindet es auf dem Tischtennis-Portal „Tischtennis pur“. Klickt euch rein!