Verteidigt nicht gerade einer der beiden so beliebten Klitschko-Brüder einen WM-Titel im Schwergewicht, hält sich das Interesse am Boxsport der breiten Öffentlichkeit doch eher zurück. Zugegeben, bei den ganzen unterschiedlichen Box-Verbänden und Gewichtsklassen blickt ein Laie ja auch gar nicht so wirklich durch. Also bleibt es meist bei Fachsimpelei und Vorfreude in der Box-Szene, wenn mal wieder ein wichtiger Kampf in einer anderen Gewichtsklasse ansteht.
So würde auch der WM-Kampf der World Boxing Organization (WBO) im Federleichtgewicht am Samstag zwischen dem Mexikaner Orlando Salido und dem Puerto Ricaner Orlando Cruz, unter normalen Umständen, nur in Fachkreisen Beachtung finden. Nun ja, wir schreiben das Jahr 2013 und es sind, viele werden sagen „leider“, keine normalen Umstände:
Orlando Cruz hat sich vor etwas mehr als einem Jahr, es war der 4. Oktober 2012, zu seiner Homosexualität bekannt. Es war das erste „Outing“ eines aktuellen Box-Profis. Wer sich auch nur einen Funken mit Leistungssport in der Öffentlichkeit befasst, weiß, welchen Seltenheitswert dieser Schritt des 32-Jährigen besaß. Was wohl keiner außer Cruz selbst so richtig einschätzen kann ist, welche Kraft dieses Vorgehen gekostet hat und wie befreiend die Wirkung auf den Menschen und den Sportler Cruz sein muss.

Wirkung hat die ganze Geschichte natürlich auch auf das mediale Interesse. Das war bereits beim Outing riesig und ist durch die zwei Siege, die der Puerto Ricaner seitdem errungen hat, nicht gerade geringer geworden. Am Samstag könnte er der erste schwule Boxweltmeister der Geschichte werden.
Dass dieser Fakt noch etwas so besonderes darstellt, hat viel mit dem Verhalten der Gesellschaft gegenüber dem Leistungssport zu tun. Fallen ihnen spontan Leistungssportler ein, die sich in der Öffentlichkeit zu ihrer Homosexualität bekennen? Keine Sorge, das ist bei Leibe keine Bildungslücke. Es gibt sie zwar, allerdings sind diese zum einen rar gesät, zum anderen ist der Zeitpunkt des „Coming-Out“ oftmals am Ende der Karriere gewesen.
John Amaechi, ein ehemaliger Basketballprofi in der NBA, outete sich so zum Beispiel erst nach seiner aktiven Karriere im Jahr 2007. Als erster noch aktiver Profi aus einer der vier großen amerikanischen Profiligen wagte erst dieses Jahr im April, Jason Collins, das Bekenntnis zu seiner sexuellen Ausrichtung. Er steht momentan bei den Washington Wizzards unter Vertrag.
Wenn eine Sportart mit der „Zurschaustellung der Männlichkeit und dem Machogehabe“ im Boxen mithalten kann, dann ist es wohl Rugby. Hier gab es das spektakulärste „Outing“. Der 100-malige Walisische Nationalspieler und absolute Publikumsliebling, Gareth Thomas, bekannte sich 2009 öffentlich zwei Jahre vor seinem Karriereende.

Was unseren „König Fußball“ angeht, sind wir noch weit entfernt von öffentlichen Bekenntnissen schwuler Fußballer. Dass es sie gibt, ist ein mehr oder weniger offenes Geheimnis. Schließlich ist auch der Fußball Teil unserer Gesellschaft. Dass erwachsene Männer allerdings eher den Weg wählen, sich eine Agenturfrau für öffentliche Auftritte zu suchen, ist weit weg von einem Ideal, allerdings pure Realität. Die Angst in einem Stadion vor 50.000 Zuschauern nach einem Fehler auf die sexuelle Ausrichtung beschränkt zu werden, ist nur natürlich und nachvollziehbar. Wer schon mal einen Stadionbesuch, vielleicht sogar noch in einer Fankurve, hinter sich hat, der kann sich dieses Szenario ja mal durchspielen. Spielt er gut, ist er der „tolle, schwule Fußballer“, spielt er mies, ist er dann direkt „die Schwuchtel, die jeden Ball verstolpert“?
Dennoch hat sich der Amerikaner Robbie Rogers, ehemaliger Premier League-Legionär, im Februar diesen Jahres geoutet, aber gleichzeitig seinen Rücktritt vom Profifußball erklärt. Nach vielen positiven Reaktionen spielt er diese Saison wieder für die Los Angeles Galaxy.

„ Insgesamt habe ich viel Respekt erfahren, 95% der Reaktionen auf der ganzen Welt waren positiv“, sagte Orlando Cruz indes diese Woche auf der Pressekonferenz vor dem WM-Kampf in Las Vegas. „ Ich war noch nie so gut, wie jetzt. Ich warte auf Samstag, um Geschichte zu schreiben“, beschrieb Cruz seine Vorfreude auf den Titel-Fight.
In einem Interview mit „der Welt“ hat Cruz außerdem erklärt, dass er 3(!) Jahre lang mit einem Psychologen zusammen gearbeitet hat, bis er sich stark genug fühlte, um mit seinen Gefühlen an die Öffentlichkeit zu gehen. „ Das Outing gab mir Lebensfreude und Energie, die ich so noch nie besaß.“, heißt es in dem Interview auf der Homepage „der Welt“, und weiter: „Mir fällt es sehr schwer zu beschreiben, wie glücklich ich mich in meiner Haut fühle. Sie können sich nicht vorstellen, in was für einem engen Panzer ich jahrelang gelebt habe. Er schnürte mir immer mehr die Luft zum Atmen ab. Ich war schon traumatisiert, deshalb musste ich mich outen, sonst wäre es zum schleichenden Selbstmord gekommen.“
Er sei jetzt ein wesentlich besserer Boxer und der WM-Titel sei sein zweites großes Ziel nach der Teilnahme an den Olympischen Spielen in Sydney für sein Heimatland Puerto Rico gewesen. „Ich bin frei und glücklich. Jetzt warte ich auf den 12. Oktober, um Geschichte zu schreiben und wahr genommen zu werden.“

Wahr genommen wird er am Samstag weit über die Box-Szene hinaus. Mit seinem Outing hat er es geschafft, dass dieses Wochenende viele Menschen an seiner Leistung in und außerhalb des Boxrings teilhaben. Bestimmt werden es keine fünf Millionen Menschen an den TV-Geräten, wie bei einem Klitschko-Kampf, dafür hoffentlich jede Menge junger Leistungs -und Breitensportler, die Mut für ihre Entscheidungen in der Zukunft benötigen.